Die leere Wohnung

Die leere Wohnung

Solange ich denken kann, hat im Haus gegenüber in der Parterre Familie C. gewohnt. Ich erinnere mich daran, ich war noch ein Kind, dass zur Familie neben den Eltern noch zwei Brüder und eine Schwester gehörten. Die Brüder waren älter als ich, haben meistens freundlich gegrüßt. Die Schwester war glaube ich etwa in meinem Alter. Die Wohnung hat sich auch in den Jahrzehnten eigentlich nie wirklich verändert. Was mir, wenn ich denn mal kurz aus irgendeinem Grund in der Wohnung war, immer auffiel, war der große, einfache Holztisch im Wohnzimmer mit den vielen Stühlen. Dort saßen sie alle, die Eltern mit den Kindern und den vielen anderen Familienmitgliedern. Sie trafen sich sehr oft, saßen beieinander und unterhielten sich angeregt. Der Fernseher schien fast nie zu laufen, Handys gab es noch nicht, also wurde sich unterhalten. Frau C. liebte es, alle zu bekochen. Im Keller hatte Herr C. eine Werkbank und jede Menge Arbeitsmaterial. Wenn bei meinen Eltern mal irgendetwas kaputt ging, ob es nun die Waschmaschine, der Duschkopf oder die Lampe war, Herr C. wurde gerufen, kam selbstverständlich sofort, schwitzte bei der Arbeit, reparierte  und bekam dann ein Pfund Kaffee und eine Tafel Schokolade. Darüber hatte er sich dann immer sehr gefreut, betonte aber, eigentlich wolle er gar nichts für seine Arbeit.

Frau C. liebte es auch zu backen und Marmelade und andere leckere Dinge einzukochen. So war neben dem vielen Werkzeug im Keller jede Menge Vorrat in Einweggläsern gelagert, wovon wir immer einmal wieder etwas zum Probieren erhielten. Als dann die Kinder Nachwuchs bekamen, wurden auch die bekocht. Unmengen an Milch wurde ständig eingekauft. Für das Ehepaar C. gab es nur die Familie und sie als Paar. Die Wohnung war einfach eingerichtet, immer sauber und ordentlich, trotz der vielen Menschen, die immer ein und ausgingen. Familie C. verbrachte sehr viel Zeit in ihrem Garten. Weiter, als bis dahin, kamen sie nie hinaus. „Wollen sie nicht mal in den Urlaub fliegen“, fragte mein Vater immer mal wieder. „Was sollen wir wegfliegen, wo es doch so schön hier ist. Und wir haben ja unseren Garten“, hieß es dann erneut.

Ganz oben im Haus wohnte, fast ebenso lange wie Familie C., Familie H. Sie bestand eigentlich nur aus zwei Personen. Herr H. war etwas älter als seine Frau. Beide sahen immer sehr adrett gekleidet aus und hatten eine sehr schöne Einrichtung. Alles war hochwertig und immer sehr gepflegt. Frau H. ging, soweit ich mich erinnern kann, jede Woche zum Friseur. Ihre Haare waren blond, dann irgendwann blond gefärbt und immer sehr toupiert. Ihre Kleidung war, wie die Wohnung, sehr geschmackvoll und aufeinander abgestimmt. Beide waren immer sehr freundlich, gerne für ein Schwätzen zu haben und lebten ihr Dasein, zu Zweit. 

Das ist Mittlerweile Jahrzehnte her. 

Familie C. hatte im Laufe der Jahre immer noch Ihre Familie, die inzwischen gewachsen war, aber auch teilweise durch Verluste weniger wurde, zu Besuch. Nach wie vor standen die Kinder im Mittelpunkt. Ich weiß noch genau, als Herr C. eine schlimme Diagnose bekam. Irgendwann schien er die Krankheit überwunden zu haben, doch sie kehrte zurück. 

Das Ehepaar H. traf das Schicksal schon früher, als Herr H. nach einer Krankheit seine Frau alleine ließ. Wenn das mal passiert, sagte sie oft, dann fange ich an zu reisen. Daraus wurde jedoch leider nichts. Der wöchentliche Friseurtermin blieb und es kamen Taxifahren zum Arzt dazu. 

Ich erinnere mich noch genau an folgende Szenen. Herr C., nachdem er die Therapie abgebrochen hatte, saß auf dem Balkon und schaute sich das Geschehen an. Das hatte er all die Jahre noch nie getan. Es war ein ergreifender Anblick, ihn dort sitzen, die Nachbarn freundlich begrüßen zu sehen, als würde er sich von allem langsam verabschieden. 

Frau H. beschloss von einem auf den anderen Tag, nicht mehr die Wohnung zu verlassen. Sie bestellte sich ihre Lebensmittel nach Hause, nahm sich eine Putzhilfe und ließ ihre sonst immer so gepflegten Haare einfach wachsen Sie waren nun ergraut und zu einem langen Zopf gebunden. Im Laufe der Jahre baute ihr Körper langsam ab. Immer wieder fiel sie zu Boden und es musste ein Krankenwagen gerufen werden. Die Mitarbeiter halfen ihr dann wieder auf die Beine, ins Krankenhaus wollte sie nie. 

Nachdem Herr C. seine Frau nach einem fast ganzen gemeinsamen Leben alleine ließ, wurde auch sie nach ein paar Jahren immer schwerfälliger. 

So kam es, dass Frau C. ihrem Mann folgte und auch Frau H. um einen Krankenhausaufenthalt nicht mehr herumkam. Dort endete dann auch ihre Geschichte.

Es dauerte eine Weile, bis ich nach und nach den Anblick der leeren Wohnungen gegenüber realisierte. Auf dem einen Balkon sah ich noch eine ganze Zeit lang Herrn C. sitzen, wie er die Sonne genoss. Auf dem anderen Balkon Frau H, die mit ihrem schier endlos langen, grauen Zopf im Nachthemd gebückt über den Balkon lief. 

Nun sind beide Wohnungen wieder vermietet und mit neuen Möbeln und Leben gefüllt. Niemand der neuen Nachbarn weiß auch nur das Geringste von seinen Vormietern. Als hätten sie nie dort gelebt.

Doch wenn ich mitten in der Nacht manchmal wach werde, dann gehe ich ans Fenster und sehe hinüber und denke an die guten alten Zeiten. 



Foto: Mathias-p-r-reding-unsplash