
Ein Spaziergang durch die Zeit
Um möglichst lange und gesund zu leben, müssen wir alle etwas dafür tun. OK, es gibt Menschen, die sich darüber überhaupt keine Gedanken machen, alles andere als ein gesundes Leben führen und trotzdem steinalt werden. Aber ich behaupte mal, das ist die Ausnahme.
Einen hundertprozentigen Beweis gibt es aber dafür nicht. Gesund leben erhöht massiv die Chancen auf ein langes, gutes Leben, aber es ist keine Garantie. Man beeinflusst damit die Wahrscheinlichkeiten, nicht das Schicksal.
Aber wie so oft schweife ich vom Thema ab. Um die Fitness-Ringe meiner Smartwatch etwas positiv zu beeinflussen, versuche ich, sooft es geht, in meiner Pause einen kleinen Spaziergang zu machen. Jeder Schritt soll ja gesund sein.
Versuche ich ist allerdings wirklich die richtige Formulierung. Eigentlich sollte es kein Problem sein, seine Beine mindestens einmal am Tag etwas zu bewegen. Aber manchmal lege ich mir passende Gründe zurecht, die mein Vorhaben zum Scheitern bringen.
Manchmal ist das Wetter einfach zu schlecht. Wer hat schon Luft bei strömenden Regen spazieren zu gehen. Klar, dafür gibt es einen Schirm, aber oft habe ich dann einfach keine Motivation. Wobei das eigentlich schon der zweite Grund ist, man muss es voneinander trennen. Schlechtes Wetter oder keine Motivation. Letzteres muss ja nicht vom Wetter abhängig sein, es ist eine Gemütseinstellung. An manchen Tagen kann ich mich einfach nicht aufraffen.
Manchmal ist aber auch so viel zu tun, dass ich es nicht schaffe. Ein anderer Grund, der auch vorkommt, ist, dass durch den Stress ein kurzer Powernap hermuss. Also ein kurzer Sturzflug in den Schlaf. Danach fühle ich mich meistens besser, etwas erholt und habe neue Energie.
Aber in der Regel versuche ich alle diese Gründe nicht zu oft gewinnen zu lassen, sondern nutze die Zeit für einen Spaziergang an der frischen Luft. Meistens nehme ich mehr oder weniger dieselbe Strecke. Der Hauptgrund ist natürlich, dass ich genau weiß, wie viel Zeit ich für die Runde benötige.
Mit meinen Gedanken ganz bei mir gehe ich dann mit offenen Augen und Ohren durch die Straßen. Allerdings kann ich diese Gedanken sehr schwer im Zaum halten. Meine vielen kleinen Beobachtungen brennen sich bei mir ein.
In meiner Wohngegend sind viele Kliniken in der Nähe. An einem dieser Tage kam mir ein junges Paar entgegen, das ich zunächst nur von Weitem sah. Der Mann trug eine Tasche bei sich, in der locker Kleidung für ein paar Tage passten. Beide hielten sich an den Händen, stoppten dann und machten ein Selfie von sich. Als sie näher kamen erblickte ich ihren ziemlich runden Bauch. Neues Leben ging an mir vorbei, bereit, die Welt kennenzulernen. Bereit, die Eltern kennenzulernen. Beide strahlten vor Glück als sie an mir vorbeigingen und er eine Hand auf Ihren Bauch legte. In Gedanken sah ich ein Baby in einer Fruchtblase, das lächelte, als würde es mich grüßen.
Einige Meter weiter wurde ich durch ziemlichen Lärm zurück in die Wirklichkeit geholt. Mein Blick wanderte zur Seite und da sah ich sie. Hintereinander aufgereiht, alle trugen auffällige gelbe Warnwesten und hielten sich an den Händen. Es waren Mini-Menschen, die im Kindergarten darauf warteten, ebenfalls einen Spaziergang zu machen. Sehr gut dachte ich, wenn Ihr Euch jetzt schon richtig bewegt habt Ihr bestimmt gute Chancen Hundert zu werden.
Wieder ein paar Schritte weiter sah ich, ebenfalls an einer Hand, ein Mädchen mit einem Schulranzen auf dem Rücken, der fast größer als sie selber war. Die Mama stolzierte mit zügig der Lütten voran.
Der Altersdurchschnitt hob sich langsam als einige junge Menschen meinen Weg kreuzten. Ganz sicherlich Studenten, dachte ich. Einige waren in Eile, andere hatten anscheinend alle Zeit der Welt, wieder andere sahen konzentriert aus, zwei lachten und machten irgendwelche Scherze. Ich bildete mir ein, dass es sich dabei um sogenannte „Erstis“, als Erstsemester handelte. Vielleicht wird mal einer von Ihnen die Welt retten, schlimme Krankheiten heilen.
Bei dem Gedanken an Krankheiten schaute ich nur ganz kurz zu Seite. Das riesige Gebäude der Onkologie mit den Menschen, die davor warten oder an einem der Tische draußen saßen, oft in sich gekehrt, etwas tranken. Hier war das Alter sehr unterschiedlich.
Der Handwerker mit dem Eimer in der Hand, der an der Mauer herumwerkelt, fiel mir als Nächstes auf. Er sah mitgenommen aus. Seine sicherlich schwere Arbeit hatte Spuren in seinem Gesicht hinterlassen. Auch seine Körperhaltung zeigte, dass er sehr wahrscheinlich Zeit seines Lebens schwer arbeiten musste.
Die Körperhaltung des Mannes, der in dem Moment an mir vorbeiging, ich sah ihn nur aus dem Augenwinkel, war sehr gebückt. Er ging an einem Rollator. Ein Schicksal, das viele irgendwann einholt.
Das persönliche Highlight meiner Spaziergänge ist der Moment, an dem ich an dem Ort stehe, der in mir besondere Erinnerungen weckt. Ich sehe genau an dieser Stelle Menschen, die heute leider nicht mehr unter uns sind. Menschen, die ich vermisse. Menschen, an die ich mich sehr gut erinnere, die ich manchmal in meiner Nähe spüre, aber dann feststellen muss, dass es bedauerlicherweise nur eine schöne Einbildung ist.
Der Ort, an dem in dieser Runde unsere Familie und Freunde das letzte Mal so zusammen waren. Der, an dem wir den Bund fürs Leben geschlossen haben. Wenn die Zeit ausreicht, gehe ich in die Kirche, bleibe wie damals vor der Tür stehen, halte für kurz inne. Dann höre ich unseren Pastor sagen, „lassen Sie sich Zeit, bevor sie hineingehen, das ist Ihr Moment“. Dann wird mir kurz warm ums Herz. Manchmal zünde ich auch eine Kerze an.
Wenn ich um die Kirche gehe, sehe ich in einem Raum mit großen Fenstern ältere Damen, die unter Anleitung Sport treiben. Sie gehen im Kreis oder machen Übungen sitzend auf einem Stuhl. Toll denke ich dann immer wieder, Sport kann man in jedem Alter machen.
Auf dem Rückweg sehe ich in einer Straße in der Ferne einen Ort, an dem ich mich einige Monate, vielleicht war es auch ein Jahr, mit anderen regelmäßig getroffen habe. Am Anfang waren wir uns fremd, mit der Zeit teilten wir offen unseren Schmerz, unsere Sorgen, unsere Gedanken. Es war im Rahmen einer Trauergruppe, der Ort ist ein Bestattungsunternehmen.
Kurz bevor ich wieder zu Hause ankam, dachte ich an meine vielen kurzen Begegnungen und Gedanken. Es war ein kompletter Kreislauf, der Kreislauf des Lebens. Vom Ungeborenen bis hin zum Ende eines Lebens.
Wie ein Sonnenstrahl, der durch die Wolken bricht, so kurz, so schön, so vergänglich ist unser Leben. Und jeder Moment zählt. Ein Wimpernschlag zwischen Geburt und Abschied, darum tanze, solange die Musik spielt.