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Eine Frage der Ehre

Teil 1

Im Jahr 2015 hatte ich eine besondere Begegnung. Die damalige Seniorchefin, die ich seit meiner Ausbildung kannte, feierte einen besonderen Geburtstag. Es war runder Geburtstag, es war ihr Einhundertster. 

Bis weit ins hohe Alter kam sie noch regelmäßig in die Firma. Ihr lang verstorbener Mann hatte eine Stiftung für junge Menschen bis zum Alter von 25 Jahren mit körperlichen, geistigen oder seelischen Behinderungen gegründet. Die Seniorchefin kümmerte sich um die Vergabe von Zuschüssen. Daher benötigte sie nach den großen Feierlichkeiten einen neuen Drucker, der Alte hatte seinen Geist aufgegeben und bat mich, einen neuen zu beschaffen und bei ihr zu Hause einzurichten.

Als ich sie in ihrer Villa besuchte, wirkte sie wie eh und je. Mit ihrem Rollator flitzte sie von einem Zimmer ins andere, freute sich über ihr neues Gerät und erzählte mir dann in ihrem gemütlichen Wohnzimmer von ihrer besonderen Feier und zeigte mir zahlreiche Glückwunschschreiben, natürlich auch von einiger Prominenz. „Möchten Sie ein Glas Sherry oder einen selbst gemachten Likör?“, fragte sie mich mit einem Lächeln. Wir plauderten über alte Zeiten und als ich ihr zum Abschied die Hand schüttelte, war ich stolz, dass ich mit einem Menschen, der über 100 Jahre alt geworden ist, Zeit verbringen durfte. Wer trifft schon Personen, die bereits so lange auf der Erde sind?

Als meine Mama mir vor Jahren begeistert von einer Sportsfreundin berichtete, die bereits ebenfalls auf die Hundert zuging, war ich fasziniert von ihren Erzählungen und Schwärmereien. Wenn man in dem hohen Alter noch Sport macht, muss man wohl irgendetwas richtig gemacht haben. 

Vor drei Jahren hörte ich dann, dass diese Dame ihren runden Geburtstag im Kreise ihrer Familie wieder auf Sylt gefeiert hat. Seit vielen Jahren verbrachte sie auf der schönen Insel einige Wochen im Jahr, ihr Enkel ist dann in dieser Zeit ebenfalls dort. Immer wieder wurde eindrucksvoll von ihr berichtet. Ich war begeistert.

Vor einigen Wochen erzählte meine Mama dann berührt, dass „Irmi“, so wird sie liebevoll genannt, wieder beim Stuhl-Yoga aufgetaucht ist, unter großem Applaus der anderen Teilnehmerinnen. Sie hatte eine Zeit lang ausgesetzt, mit 103 Jahren war sie aber wieder dabei. Ich konnte das kaum glauben. Ich bin ja schon sehr stolz auf meine Mama, die bereits seit über 50 Jahren im Sportverein ist, aber ü-100, das verschlug mir glatt die Sprache.

Wenn man noch so fit ist, hat man dann ein Geheimnis, das einen jung hält? Dem musste ich doch unbedingt auf den Grund gehen. Ich wollte „Irmi“ also zu gerne einmal kennenlernen. Aber ob man Lust hat, einen wildfremden Fragen über sein Leben zu beantworten, bezweifelte ich. Ich druckte ein paar meiner Blogbeiträge aus, gab sie meiner Mama und bat um Vermittlung. Schon nach kurzer Zeit hieß es, sie würde mich gerne kennenlernen und meine Beiträge gefielen ihr. Und tatsächlich vereinbarten wir einen Termin zu Dritt bei ihr Zuhause.

Wenn man 1921 geboren wurde, erlebte man den Zweiten Weltkrieg als junge Frau. Unfassbar. Ich recherchierte, was in dieser Zeit so geschah. 

Die Lebenserwartung lag bei Frauen bei etwa 58 Jahren. Es gab noch keine modernen Antibiotika (Penicillin wurde erst 1928 entdeckt). Krankheiten wie Tuberkulose, Lungenentzündung oder Infektionen waren oft tödlich. Besonders in wirtschaftlichen Krisenzeiten waren Mangelernährung und schlechte hygienische Bedingungen ein großes Problem. Arbeitsschutz war kaum vorhanden, viele Menschen starben durch Arbeitsunfälle oder Berufskrankheiten. 

Die UdSSR (Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken) wurde gegründet. Lenin war an der Macht. In Italien kam es zum „Marsch auf Rom“. Der Faschistenführer Benito Mussolini wurde vom König zum Ministerpräsidenten ernannt. Der britische Archäologe Howard Carter fand das fast unberührte Grab des ägyptischen Pharaos Tutanchamun. Friedrich Ebert war Reichspräsident. 1922 war in Deutschland das Jahr der Hyperinflation. Ein US-Dollar kostete im Dezember 7.400 Mark. Die Menschen verloren ihr Erspartes. Was waren das für unglaubliche Zeiten.

Etwas aufgeregt, mit einem Blumenstrauß in der Hand und einer Tafel Schokolade in der Tasche klingelten wir an ihrer Wohnungstür. Mit einem Lächeln im Gesicht öffnete die beeindruckend fitte Seniorin die Tür und bat uns hinein. 

Eine sympathische Dame mit interessiert schauenden blauen Augen, beeindruckend glatter Haut und vollem Haar saß vor mir und schaute mich erwartungsvoll an. Ich hatte mir natürlich im Voraus Gedanken über das Gespräch gemacht und mir Fragen notiert, aber noch nie in meinem Leben hatte ich ein Interview, wenn man es denn so nennen will, durchgeführt. Natürlich erst recht nicht mit einem Gegenüber, der Körbeweise Bücher über sein Leben schreiben könnte. 

Um mich auf das Gespräch zu konzentrieren, nahm ich es sicherheitshalber auf. Für Irmi, wie ich sie jetzt einfach mal respektvoll nennen darf, war das ok. Natürlich hatte ich gleich zwei Smartphones dabei und startete die Aufnahme, zugeben leicht nervös. 

Als Einzelkind wurde sie in der heimischen Wohnung in Kiel geboren, also eine echte Kieler Sprotte. Und das nur wenige Jahre nachdem Kiel 1918 eine Schlüsselrolle durch den Matrosenaufstand in der deutschen Revolution spielte. 

Ein ganz wichtiger und besonderer Moment war für sie, dass sie 1957, nach einer Scheidung alleinstehend ihre Wohnung bekam. Eigentlich stand ihr damals nur eine Einzimmerwohnung zu, doch durch den Tipp ihres damaligen Chefs, zu erwähnen, dass sie wieder heiraten wolle, wurde es sogar eine Zweizimmerwohnung, in der sie sich bis heute sehr wohlfühlt.

Gearbeitet hat sie als Sekretärin beim Deutschen Gewerkschaftsbund. Auf meine Frage, ob ihr durch den fehlenden Partner nicht etwas im Leben gefehlt hat, lächelt sie und verneint es. Alleinsein war für sie nie ein Problem. Im Laufe des Lebens hat sie sich daran gewöhnt und immer mehr genossen, tun und lassen zu können, was sie will. Auch das Fernsehprogramm bestimmen zu können ist angenehm und sie hat diese Eigenständigkeit bis heute nicht bereut. 

Sie kauft immer noch alleine für sich ein, kocht mittags und abends gibt es ein Abendbrot. Ihr Sohn, den sie ganz alleine aufgezogen hat, besucht sie fast jedes Wochenende und bringt ihr dann oft etwas zu Essen mit, dass sie sich dann in der Woche zubereiten kann. Lediglich eine Putzhilfe, die zweimal die Woche kommt, unterstützt sie im Alltag. Etwas zu Essen bestellt hat sie sich noch nie. Pizza liebt sie und Ente in Sauer war schon immer ihr Leibgericht. Das musste ich zu Hause erst einmal im Internet suchen. Ich mag zwar knusprige süßsaure Ente sehr, aber Ente in sauer habe ich noch nie gehört. Tatsächlich stieß ich auf ein Rezept, das beschreibt, dass die Ente dazu mit Zucker und Essigessenz angerichtet wird.

Apropos Essen: In der Restaurantszene kennt sich Irmi hervorragend aus. Viele Möglichkeiten in der Nähe sind ihr ein Begriff. Darüber, dass einige davon immer voll sind, zu fast jeder Tageszeit und meistens mit jungen Menschen, wundert sie genau so sehr wie mich.  

Eine Zeit lang hatte sie schwere Beine und hat mit dem Yoga ausgesetzt. Aber trotz oder gerade wegen der Einschränkung hat sie sich entschlossen, zur Freude ihres Sohnes, wieder regelmäßig daran teilzunehmen. Sie war schon immer sehr sportlich, ist auch bereits seit über 50 Jahren im Sportverein. Früher war es die Gymnastik, heute Yoga mithilfe eines Stuhls. In ihrer Jungendzeit war sie sogar Kunstradfahrerin und saß auf einem Einrad, erzählt sie stolz. Bei ihrem Anblick dachte ich, es würde mich nicht wundern, wenn sie mit etwas Übung sogar heute noch eine Runde auf dem Fahrrad zurücklegen würde.

Teil zwei folgt in einer Woche.