
Eine Frage der Ehre (Teil 2)
Das Gefühl der Angst kennt sie nicht. Lediglich als die Bomben im Krieg fielen, aber danach wurde das Wort für sie zum Fremdwort. Ein Leben ohne Angst, beneidenswert. Traurig macht sie manchmal, dass sie ihre vielen Erlebnisse, die ihr langes Leben geprägt haben, mit keinem Zeitzeugen mehr teilen kann. Denn Freunde aus frühen Tagen sind nicht mehr unter uns. Vor allem ihre beste Freundin vermisst sie bis heute sehr. Während sie ihre Mutter sehr früh verloren hat, ist zumindest ihr Vater knapp 90 geworden. Vielleicht kommen die guten Gene daher, denke ich während sie erzählt.
An ihre erste Fernsehsendung kann sie sich nicht mehr erinnern. Außerdem ist sie früher lieber ins Kino gegangen. Der erste Film, an den sie sich erinnern kann, war ein Liebesfilm. Der Titel fiel ihr spontan nicht ein aber ihre Augen leuchten, als sie von ihrem damaligen Lieblingsschauspieler schwärmt. Adolf Wohlbrück fällt ihr spontan ein. Den musste ich auch erst einmal zu Hause googeln. Der 1896 geborene Schauspieler kommt mir tatsächlich bekannt vor. Und der Name Romy Schneider ist ihr natürlich im Gedächtnis geblieben. In unserer Einkaufsstraße gab es ein Kino, da konnte man nach dem Film einfach sitzen bleiben und das Werk noch mal sehen, erzählt sie. Auf meine Frage, ob sie das manchmal gemacht hat, schüttelt sie den Kopf.
Als ich sie nach Shopping frage, winkt sie ab. Da war noch nie ihr Ding, das empfand sie immer für langweilig. Zum Geburtstag wünscht sie sich generell nichts, was natürlich nicht heißt, dass sie nichts bekommt, lächelt sie. Bücher, vor allem erste Themen, darüber freut sie sich nach wie vor. Denn Lesen ist immer schon ihre Leidenschaft gewesen.
Ich frage sie, ob sie sich beim Essen einschränken, auf irgendetwas achten muss. Sie braucht keine Tabletten zu nehmen, kann alles essen. Am liebsten mag sie dunkle Schokolade. Ich denke an meine kleine mitgebrachte Tafel und freue mich, dass ich ihr damit dann wohl eine Freude gemacht habe.
Gibt es Fehler, die sie im Leben gemacht hat und heute bereut, möchte ich wissen. Sie überlegt eine Weile. Eigentlich nicht, nur manchmal wünscht sie sich, wenn sie noch mehr intensive Gespräche mit ihrem Mann geführt hätte.
Fühlen Sie sich so alt wie sie sind lautet meine nächste Frage. Auf keinen Fall, antwortet sie. Wenn ihr bewusst wird, dass sie bereits 103 ist, kann sie es selber kaum glauben. Da sind wir dann ja schon mal mindestens zwei, denke ich amüsiert. 20 möchte sie nicht noch einmal sein, mit 30 oder 40 aber noch einmal von vorne anfangen, dass kann sie sich gut vorstellen.
Gibt es einen Ort, den sie gerne besuchen möchten? Nein, bekomme ich zur Antwort. Früher ist sie mit ihrem Mann gerne gereist, hat viel von Europa gesehen und war sogar mal in L.A. und in Kanada. Letzteres hat ihr sehr gut gefallen, erinnert sie sich. Bekannte von ihr, die in Australien wohnen, haben sie des Öfteren eingeladen. Aber etwa 24 Stunden in einem Flugzeug sitzen, das kam für sie nie infrage. Kiel und Hamburg, das waren und sind immer ihre Lieblingsorte. Wobei man in Hamburg als junge Frau natürlich mehr erleben konnte als in Kiel.
Seit etwa 10 Jahren fährt sie auf ihre Lieblingsinsel, nach Sylt. Dort hat sie drei Wochen ein Apartment und genießt die wunderschöne Zeit am Meer und ihren Blick vom Balkon. Besonders Sonnenuntergänge liebt sie, ihre blauen Augen leuchten bei der Erzählung. Ihr Sohn, ihr Enkel mit seiner Freundin und ihre Nichte sind dann auch dort, verbringen Zeit mit ihr und feiern zusammen ihren Geburtstag. Das ist jedes Jahr ein besonderes Erlebnis. Und dass sie mit ihrem Rollator an der Promenade spazieren gehen kann, macht ihr große Freude. Das Apartment wird nach dem Urlaub immer gleich wieder für das nächste Jahr gebucht, ihre Begeisterung ist ansteckend.
Sie zeigt mir stolz einen großen Bericht über sie in einer Zeitung. Er beschreibt ihre Inselliebe und ihrer Treue, erzählt aus ihrem Leben. Ein schönes Foto von ihr mit dem Meer im Hintergrund. Ich bin beeindruckt.
Auf meine Frage, wie denn ihre Schlafgewohnheiten so sind, antwortet sie schwärmend, gerne bis 24 Uhr aufbleiben und am nächsten Tag mal etwas länger zu schlafen. Vor allem sonntags im Bett liegen und Radio hören, das mag sie besonders.
Auch beim Thema Politik kann sie mitreden. Wenn sie so überlegt, wählt sie eigentlich immer dieselbe Partei und selbstverständlich geht sie auch jetzt wieder wählen. Vor Veränderungen hat sie nicht wirklich Angst. Richtige Persönlichkeiten in der Politik vermisst sie, Helmut Schmidt zum Beispiel. Mit der Meinung ist sie garantiert nicht alleine.
Gibt es etwas, was sie unbedingt noch mal machen möchte, vielleicht einen Fallschirmsprung? Sie überlegt eine Weile. Nein, Fallschirmspringen möchte sie nicht mehr. Einen Wunsch, der unbedingt erfüllt werden muss, gibt es nicht. Wunschlos glücklich mit 103 Jahren, mehr geht nicht.
Das Gespräch dauert bereits fast eine Stunde und ich möchte sie auch nicht zu lange aufhalten. Daher stelle ich die letzten drei wichtigen Fragen zum Schluss:
Haben Sie einen Tipp für so ein langes und gesundes Leben möchte ich wissen. Sie überlegt eine Weile. Zufriedenheit, das ist ihr Lebensmotto. Um den Körper fit zu halten Sport. Geraucht hat sie ihr Leben lang nicht, Alkohol mal ein Glas Wein in Gesellschaft. Ganz regelmäßig zu den Vorsorgeuntersuchungen war sie nicht und wenn sie darüber nachdenkt, müsse sie sich doch glatt mal wieder anmelden. Ich finde das klasse.
Auf meine Frage, ob sie an Gott glauben würde, antwortet sie spontan mit Nein. Damit auch nicht an ein Leben nach dem Tod.
Als ich sie das letzte Mal anschaue und mir erneut ihr doch glattes Gesicht auffällt, frage ich sie nach dem Geheimnis ihrer jungen Haut. Bisschen Creme drauf, das war’s, ein Geheimrezept besonderer Art hat sie nicht.
Meine allerletzte (Zusatz) Frage musste ich wiederholen. Meine Frage lautete, ob sie schon einmal etwas vom Dschungelcamp gehört habe? Aber auch bei meiner Wiederholung der Frage schaut sie mich fragend an. Nein, das hat sie noch nie gehört.
Vielleicht sind das die eigentlichen Geheimnisse für ein glückliches und gesundes Leben: Zufriedenheit, das Leben annehmen, wie es ist. Keine Ängste haben, denn wie schon immer unsere Yoga-Lehrerin sagt, 99 Prozent der Sorgen und Befürchtungen, vor denen man Angst hat, treten gar nicht ein. Sport und bei der Ernährung nicht auf alles verzichten, auch auf ein Glas Wein ab und zu nicht. Nicht rauchen, Familie und nicht jeden Mist im Fernsehen schauen.
Vielen Dank, liebe Irmi, dass Sie mir Ihre kostbare Zeit geschenkt haben. Ich wünsche Ihnen weitere wunderschöne Jahre auf dieser schönen Erde. Noch viele harmonische Geburtstage im Kreise Ihrer Lieben und weiterhin Zufriedenheit. Es war mir eine Ehre, Sie kennengelernt zu haben.
Vielen Dank auch an meine Mama, die dieses Gespräch möglich gemacht hat und mich dabei unterstützt hat.