Eines Tages…

Ich kann mich noch genau daran erinnern, meine Einschulung war noch gar nicht so lange her, als ich damals schon dachte, eines Tages bist du so groß und musst nur sprechen, wenn du es auch wirklich willst!
Mit anderen Kindern, oder gar Erwachsenen, reden, das geht gar nicht. Schüchtern war damals mein zweiter Vorname. Ich traute mich kaum etwas zu sagen. Und wenn, dann nur so leise, dass man es kaum verstehen konnte. 

Es kam der Tag, als ein Mitschüler einen anderen auswählen sollte, der mit einem zweiten Walk-Talki das Klassenzimmer verlassen durfte (musste.) Ziel war es, den Umgang mit den neuen, modernen Geräten, zu demonstrieren. Sein Vater war damals ganz groß im Thema CB-Funk und hatte seinen Sohn angesteckt. Was soll ich sagen, wie Wahl fiel auf mich. Mit zittrigen Beinen verlies ich also den Klassenraum und verschwand auf einem der endlos lang schienenden Flure. Geh den Gang ganz runter, die Reichweite ist enorm, betonte er begeistert. Der Gedanke, dass ich nun im Mittelpunkt stehen würde und alle im Klassenzimmer auf meine Stimme warteten, war in diesem Moment unerträglich für mich. Eines Tages bist Du fertig mit der Schule, dachte ich und schon hörte ich die Stimme auf der anderen Seite des Walki-Talkis. „Hallo, bitte kommen! Hörst Du mich?“ Klar, war ja nicht taub. Aber bei dem Versuch, zu antworten, versagte meine Stimme. Nach mehreren Versuchen kam der Junge dann zu mir und fragte, warum ich denn nicht antworten würde. „Ich habe nichts gehört, vielleicht funktioniert es nicht richtig“, entgegnete ich. Komischerweise war es dann bei einem anderen Schüler plötzlich wieder funktionsfähig. 

In meiner Jugend fing ich im Verein Post SV an Fußball zu spielen. Ich war jetzt nicht der allerbeste Spieler, aber auch nicht der Schlechteste. Vorteil eins war, mein bester Freund Thorsten war in meiner Mannschaft. Vorteil zwei, mein Vater übernahm nach eine Weile den Trainerposten. Vitamin B war damals schon viel wert. Wenn das Spiel also mal ganz schlecht lief, streichelte ich demonstrativ meinen Bauch und signalisierte mein Unbehagen in Richtung Trainer, der mich dann auswechselte. Nicht jedes Mal tat der wirklich weh, aber manchmal eben schon! Jahrzehnte später fiel mir dann ein, dass diese Bauchweh wahrscheinlich durch den Fürchte-Tee hervorgerufen wurden, den wir in der Halbzeit tranken, aufgrund meiner Fructose Intoleranz, von der man bis dato noch nie etwas gehört hatte. Wenn es dann im Training darum ging, Mannschaften zusammenzustellen, wurde gewählt. Ich habe es gehasst, darauf zu warten, bis ich an der Reihe war. Eines Tages, wenn Du älter und Fußballprofi bist, dann wählst Du aus, dachte ich damals. Dazu kam es aber nie.

In der Realschule angekommen, hatte sich meine Schüchternheit leider immer noch nicht gelegt. Ich erinnere mich an eine Stunde im Musikunterricht. Unser grauenvoller Lehrer, der neben Mathe eben auch Musik unterrichtete, liebte es, seine Schüler nach Strich und Faden zusammen zuschreien. Hätte er einige Jahre früher gelebt, wäre wahrscheinlich ein Rohrstock sein bester Freund im Unterricht gewesen. In dieser Unterrichtsstunde musste fast jeder einmal vorsingen oder zumindest mit drei oder maximal vier Mitschülern zusammen singen. Da wünschte ich mir doch das alte Walki-Talki zurück. Du singst die nächste Strophe nicht, du flüsterst sie beim Singen. Flüstern, vor allen Mitschülern, das geht nun wirklich nicht. Reden fiel mir ja schon schwer, aber flüstern? Auf keinen Fall. Also sang ich das Lied einfach, mehr ging einfach nicht. Beim dritten Versuch tickte er dann fast aus und statt zu flüstern, es sangen ja zum Glück noch ein paar mehr gleichzeitig mit, tat ich einfach so, als würde ich singen, bewegte aber lediglich meine Lippen. Das fiel zum Glück gar nicht auf und ich hatte es endlich überstanden. Eines Tages, wenn du älter bist, musst du nur singen, wenn du es auch wirklich möchtest, dachte ich erleichtert, dass es erst einmal überstanden war.

Während meiner Ausbildung war die Berufsschule auch nicht mein allerbester Freund. Auch dort gab es einen grässlichen Lehrer, der es ebenso liebte, einige der Schüler zusammen zu brüllen. Man wusste etwa, wann man an die Tafel musste. Wieder habe ich diese Situation gehasst, wieder dachte ich, wenn du eines Tages mit der Ausbildung fertig bist, dann machst du deine Arbeit und gehst anschließend fröhlich nach Hause, hast deine Freizeit. Keine Schule mehr, kein vor der Klasse stehen.

Mit meiner Ausbildung erwachte auch endlich mein Selbstbewusstsein. Keinen Ton mehr herauszubringen war Geschichte. Im Gegenteil, ganz nach meinem Vater quatschte ich alle Leute plötzlich voll. Es sprudelte in vielen Situationen nur so aus mir heraus. Ich kann mich daran erinnern, dass meine Frau und ich mit ihren und meinen Eltern jedes Jahr zum Polizeiball gingen. Dafür nahmen wir uns ein Taxi. Wir saßen noch nicht einmal ganz im Wagen, da fragte mein Vater den Taxifahrer gleich, ob er auch Bayern-Fan ist. Die Antwort war egal, der Fahrer wurde trotzdem ausgiebig über das gerade beendete Spiel und den Sieg der Bayern informiert. Ja, ich hatte einen guten Lehrer, auch wenn der Unterricht sehr lange gedauert hat. 

So waren meine „eines Tages“ erst einmal verschwunden oder besser gesagt, überwunden. Doch sind sie irgendwann wieder in den Alltag zurückgekehrt. Eines Tages wirst du mehr Sport machen. Eines Tages wirst du gesünder essen und mehr auf deine Ernährung achten. Eines Tages wirst du dir mehr Zeit für deine Oma, deine Eltern, deine Freunde, für dich selber nehmen. Eines Tages wirst du ruhiger werden, dich nicht mehr über so viele Dinge aufregen. Eines Tages wirst du einen ganz besonders tollen Urlaub machen. Eines Tages wirst du nur noch machen, wozu du Lust hast. Spätestens dann, wenn du in Rente gehst. 

So vergeht die Zeit. Einige „eines Tages“ kannst du abhaken, du hast sie überstanden, einige sind vorbei, obwohl du sie zu gerne noch einmal erleben würdest, einige haben sich nicht erfüllt. Einige werden sich auch nie erfüllen, über andere ärgerst du dich, dass du sie nicht in Anspruch genommen hast. 

Aber eines Tages merkst du auch, wie schnell ein Tag, ein Monat, ein Jahr vergeht und die „eines Tages“ werden immer weniger. Du erkennst, dass die Zeit, je weiter sie fortschreitet, immer kostbarer wird. Für dich und alle Menschen in deinem Umfeld. 

Was habe ich für mich daraus gelernt? Es gibt Situationen im Leben, die man anscheinend einfach überstehen muss. Sie machen einen stark, machen dich aus. Viel wichtiger ist es aber, die Zeit nicht verrinnen zu lassen und das heute morgen planen. Jetzt ist der Moment. Zurück in die Vergangenheit zu schauen, ist wie ein altes Fotoalbum durchzublättern. Hier kleben meistens auch nur die angenehmen Fotos, an denen man sich erfreuen kann. Und das ist auch gut so. Das Fotoalbum einfach ändern, so wie es dir gefällt, kannst du nicht. Also versuche erst gar nicht darüber nachzudenken, was du hättest anders, besser machen können. Es ist nicht möglich und raubt dir nur unnötig Energie. Die noch leeren Seiten, die kannst du nicht einfach füllen, du weißt ja noch gar nicht, womit. Also verschwende auch keinen Gedanken daran. Konzentriere dich auf jetzt. Genieße diesen Moment, mach ihn dir bewusst. Denn was in zehn Minuten passiert, hast du nur minimal in deiner Hand!