Kein Netz
Auf was könntest Du am wenigsten verzichten?
Wenn Du etwas, das Dir sehr viel wert ist, weggeben müsstest, was wäre es? Die Frage, die sich dann zunächst stellt, ist, was ist Dir persönlich sehr viel wert? Vielleicht etwas, mit dem Du Dich jeden Tag beschäftigst, das Du liebst und auf das Du immer ein Auge hast, das Dich durch den Tag trägt und Dich immer wieder zum Lachen bringt, das Dir ganz viele Dinge abnimmt, mit dem Du oft die meiste Zeit des Tages verbringst.
Nein, damit meine ich leider nicht Deinen geliebten Partner, sondern Dein Smartphone. Mittlerweile vereint sich so viel darin, dass es eine Katastrophe für, ich behaupte jetzt einfach einmal, die Meisten wäre, eine Zeit lang auf den Gebrauch zu verzichten oder im schlimmsten Fall, es zu verlieren.
Eigentlich ist es wirklich erschreckend, wie abhängig man von diesem Teil geworden ist, wie viele Dinge es im Laufe der letzten Jahre ersetzt hat.
Ein Smartphone ersetzt heute Portemonnaie, Bankkarte, Kundenkarte, Fahrkarte, Personalausweis, Autoschlüssel, Wohnungsschlüssel, Hotelkarte, Stadtplan, Kompass, Navigationsgerät, Reiseführer, Übersetzungsbuch, Kamera, Videokamera, Fotoalbum, MP3-Player, Diktiergerät, Taschenlampe, Taschenrechner, Spiegel, Fernbedienung, Scanner, Faxgerät, Telefon, Wecker, Kalender, Notizbuch, To-do-Liste, Adressbuch, Stift und Papier, Lexikon, Zeitung, Buch, eReader, Lernhilfe, Fernseher, Einkaufsliste, Prospekt, Preisvergleichsgerät, Kassenzettel, Gutschein, Tagebuch, Spielekonsole, Fotoeditor, Dating-App, Pinnwand, Parkticket, Fahrtenbuch, Mikrofon, Lichtschalter, Fitness-Tracker, Blutdruckmessgerät, Schlafanalysegerät, Barometer, Thermometer und sogar die Wetterstation.
Bestimmt habe ich sogar noch einiges vergessen. Stell Dir jetzt vor, es ist alles weg. Du bist schlau und hast alles in einer Cloud gespeichert? Herzlichen Glückwunsch, das habe ich auch. Es gibt einem ein einigermaßen sicheres Gefühl.
Aber was, wenn Du plötzlich keinen Empfang hast, so gar keinen? Und das nicht nur mal für ein paar Minuten, sondern für eine längere Zeit? Was, wenn Dich in dieser Zeit jemand erreichen will? Was wird der andere denken, wenn Du Dich nicht meldest?
Sind wir alle mittlerweile so wichtig, dass wir immer online sein müssen? Natürlich nicht, zum Glück. Aber hast Du Dein Smartphone mal bewusst einen Tag oder eine Woche ausgeschaltet? Nagt dann nicht auch an Dir der Gedanke, etwas zu verpassen? Fühlst Du Dich vielleicht eingeschränkt, wenn Du es unterwegs nicht benutzen kannst? Plötzlich wieder Bargeld in den Händen. Du musst Deinen Autoschlüssel mitnehmen, kannst beim Einkaufen keine Punkte sammeln. Stell Dir vor, Du musst an fremden Orten eine Karte aus Papier benutzen.
Als wir kürzlich Richtung Österreich fuhren, kamen wir auch durch die Schweiz und Liechtenstein. Beide Länder sind nicht Teil der EU. Heißt, kein EU-Roaming. Natürlich kann man einen Tagespass buchen, ansonsten ist Telefonieren und Surfen sehr, sehr teuer.
Ich gebe es zu, ich habe tatsächlich über einen Tagespass nachgedacht. Aber dann habe ich mich dagegen entschieden. Lächerlich, einen Tag mal aufs Smartphone zu verzichten kann nicht so schwierig sein. Als wir uns der Grenze näherten, stellten wir beide unsere Geräte vorsorglich dort schon in den Flugmodus. Ich muss zugeben, irgendwie ein komisches Gefühl. Als würde man im Flugzeug sitzen und hätte über den Wolken keinen Empfang.
Wir haben als Erstes den Rheinfall von Schaffhausen erkundet. Jetzt heißt ja kein Empfang nicht, dass man sein Smartphone gar nicht mehr benutzen kann. Selbstverständlich kann ich auch damit bezahlen und so konnten wir dann auch den Eintritt weiterhin bequem damit begleichen.
Übrigens, dass die Schweiz teuer ist, ist ja kein Geheimnis. Acht Schweizer Franken für eine Portion Pommes und acht Schweizer Franken für ein Crêpe waren uns das Vergnügen dann doch nicht wert.
Der Rheinfall ist wirklich atemberaubend und ein echtes Highlight auf unserer Hinreise gewesen. Wir haben einige Fotos gemacht, die ich am liebsten gleich geteilt hätte, aber das war ja zunächst nicht möglich, doch auch nicht so schlimm.
Nach dem Rheinfall suchten wir uns dann einen Parkplatz, um Schaffhausen zu erkunden. Den, den wir gefunden hatten, konnte man nur mit einer Park-App bezahlen. Das war natürlich ohne Netz nicht möglich und wir suchten uns einen anderen. Der war dann zwar ein Stück weiter weg, aber dafür sogar kostenlos, und Laufen macht uns ja nichts aus.
Normalerweise schließt mein Smartphone beim Weggehen das Auto ab. Das hat aber nicht funktioniert. Der Schlüssel musste rausgekramt werden, wurde er doch so gut wie noch nie benutzt. Es gibt wahrlich Schlimmeres.
Schaffhausen begeisterte uns mit seiner malerischen Altstadt voller kunstvoll verzierter Erker und Brunnen sowie der runden Festung Munot aus dem 16. Jahrhundert. Von deren Plattform hat man einen weiten Blick über die Stadt, den Rhein und die umliegenden Weinberge. Im Burggraben grast echtes Damwild. Das geschichtsträchtige Kloster Allerheiligen mit dem größten Kreuzgang der Schweiz zeigt eindrucksvoll, dass Schaffhausen weit mehr Charme besitzt als nur seinen berühmten Rheinfall. Nämlich Geschichte, Atmosphäre und Vielfalt auf kleinem, aber lebendigem Raum. Wirklich sehenswert.
Zwischendurch hätten wir immer gerne mal mit dem Smartphone auf eine Karte geschaut, gegoogelt, um etwas über die Stadt, die Burg oder die Route zu erfahren. Und vor dem einen oder anderen Restaurant wäre ein Blick auf die Karte und Preise online sowie eine Navigation zum Parkplatz komfortabel gewesen, aber verzichtbar.
Es war ein richtig schöner Tag. Keine Newsletter mit Geschehnissen auf der Welt, keine Sportergebnisse, keine WhatsApp-Nachrichten, keine Wetterwarnungen oder ein Blick auf das Unwetter-Radar, keine Push-Mitteilungen von Kalendern oder To-do-Apps, keine wichtigen E-Mails, einfach nur Stille.
Als wir am Abend Liechtenstein verließen, schalteten wir nach einer Weile den Flugmodus aus. Ein Blick aufs Handy verriet uns, die Welt war noch da und unser Mikrokosmos schien unversehrt zu sein.
Unser Fazit: Kein Netz, kein Klingeln, kein „nur mal kurz online“. Einen winzigen Teil der Schweiz erkunden, ganz analog, ganz echt. Der Rheinfall donnerte, die Berge standen still, das Damwild graste seelenruhig am Munot, und wir? Wir waren einfach da. Ohne Empfang, ohne Ablenkung.
Erst zuckte der Daumen noch aus Gewohnheit, doch dann wurden unsere Sinne wach. Der Himmel hatte plötzlich mehr Tiefe als jedes Display, und die Stille klang nicht leer, sondern nach Freiheit.
Es war schön, mal nicht erreichbar zu sein. Zu spüren, wie leicht das Leben auch offline atmet.
Aber irgendwann kam doch dieser Moment. „Das würd ich jetzt gern jemandem schicken.“ Ein Bild, ein Gedanke, ein Lächeln von unterwegs.
Und so bleibt die Erkenntnis. Offline ist ein Geschenk. Aber Verbindung, im besten Sinne, ist das, was wir Menschen eben doch suchen. Vielleicht liegt die wahre Kunst darin, beides zuzulassen. Mal abschalten, um wieder neu anzukommen. Mal kein Netz haben und trotzdem verbunden sein.