In letzter Zeit stolpere ich immer wieder über ein Wort: Klimaneutral. Klar, Klimaneutralität ist Umweltbewusstsein. Jemand, der sich für das Klima einsetzt. Jemand, der investiert. Geld, Arbeit und Zeit. Der sich Gedanken macht, um die Welt ein kleines Stückchen besser zu machen. Oder was genau ist mit klimaneutral gemeint?
Wie bei vielen Begriffen, muss man sich erst einmal genauer mit der Definition auseinander-setzen, wenn man mitreden möchte. Wenn ich von meinem Telefonanbieter ein Schreiben erhalte, welches auffällig die Eigenschaft KLIMANEUTRALES Unternehmen schmückt, gehe ich davon aus, hier hat man sich Gedanken gemacht.
Wie kann ich denn meine CO2-Bilanz, also meinen CO2-Fußabdruck, oder auf Englisch, Carbon-Foodprint, positiv beeinflussen? Eigentlich ganz einfach: Die Ernährung ist zum Beispiel ein Thema. Isst Du viel Fleisch, Fisch, generell tierische Produkte, kaufst Du Bio-Ware ein, achtest Du darauf, ob sie in Deiner Nähe produziert werden? Wie bewegst Du Dich durch den Alltag? Mit einem alten Auto, dass eine Menge an Sprit verbraucht oder mit öffentlichen Verkehrsmitteln, elektrisch? Wie viele Autos habt Ihr in der Familie, wie seit Ihr zu Hause eingerichtet? Achtest Du beim Kauf von Elektrogeräten auf den Verbrauch und bei Lebensmitteln auf die Verpackung? Wie oft verreist Du und wie und wohin? Fernreisen mit dem Flugzeug oder einem Kreuzfahrtschiff? Das sind alles Beispiele, die helfen können, die Umwelt zu schonen. Je nachdem, wie Du Dich verhältst. Jeder kann seinen Beitrag dazu leisten.
Kannst Du Dich noch daran erinnern, als die GRÜNEN 1998 forderten, den Liter Benzin schrittweise auf 5 DM zu erhöhen. Damals hat man sich wütend an den Kopf gefasst. Heute ist es fast so weit. Viel fehlt nicht mehr. Wenn man aber auch mal schaut, wie viele Autos auf den Straßen fahren, unglaublich. In vielen Familien hat jedes Mitglied ein eigenes Auto. Das pustet natürlich einiges raus.
Und wer sich bei uns in Kiel mal die Kreuzfahrtschiffe anschaut, was die verbrauchen, unfassbar. Laut Naturschutzbund stößt eines dieser Kreuzfahrtschiffe PRO TAG so viel CO2 aus, wie fast 84.000 Autos. So viel Stickoxide, wie etwa 421.000 Autos, so viel Feinstaub wie etwa über eine Million Autos und so viel Schwefeloxid wie gut 376 Millionen Autos. Da bekommt man doch richtig Lust auf die nächste Kreuzfahrt, oder?
Gut, dass wir nun ein E-Auto und E-Scooter besitzen. Wie die Akkus jedoch dafür hergestellt werden, darüber möchte ich heute mal nicht nachdenken. Kein Wunder also, wenn die Pole schmelzen, der Meeresspiegel immer höher tritt und die Umweltkatastrophen weiter zunehmen.
Düstere Aussichten. Um so mehr freue ich mich also über meinen Brief von meinem Telefonanbieter, KLIMANEUTRALES Unternehmen. Wie stelle ich mir also dieses Unternehmen vor? Man hat moderne Gebäude, energetisch investiert und saniert, verbraucht viel weniger Energie als vorher. Man achtet eben genau auf diese vielen, auch kleinen Dinge, die das Klima möglichst wenig belasten. Man achtet sogar auf das Angebot in der Kantine, auf die Verpackungen, prüft, mit wem man wo Geschäfte macht, man hat den Fuhrpark auf Elektroautos umgestellt, achtet peinlichst genau darauf, wo man den Strom her bezieht. Sie haben die neusten Heizanlagen, generell haben sie viel Arbeit investiert, um den Planeten etwas besser zu machen, um sich tatsächlich KLIMANEUTRAL nennen zu dürfen. Eine rundherum tolle Sache, die mir gefällt, Anerkennung in mir auslöst und mich zur Nachahmung anspornt.
Vielleicht gibt dieses Unternehmen auch Tipps, wie sie es erreicht haben. Was sie alles umgestellt und wie lange sie dafür benötigt haben. Das muss ja sicherlich auf deren Homepage nachzulesen sein, dachte ich.
Auf dieser angekommen, springt mir auch gleich das Wort KLIMANEUTRAL in großen Buchstaben ins Auge. Habe ich doch gut gewählt, denke ich.
Je älter man wird, umso weniger sollte man sich im Alltag eigentlich noch wundern. Ja, mir geht es immer wieder so, dass ich von vielen Dingen einfach überrascht bin. Vielleicht liegt es daran, dass ich zu sehr auf das Gute in den Menschen vertraue. Als damals bekannt wurde, wie einige Mitarbeiter bei Amazon behandelt werden, war ich sehr erschrocken. Ich muss zugeben, ich war immer ein Fan von Amazon. Als Franz Beckenbauer seine Frau betrogen hat, Franz Beckenbauer, die Lichtgestalt, macht so etwas nicht, war ich erschüttert. Ich könnte noch viele Beispiele nennen, die mich getroffen haben.
Als ich also genauer auf dieser Seite las, musste ich feststellen, natürlich hat man das nicht explizit so beschrieben, dass sich die Firma meines Vertrauens überhaupt nicht weiterentwickelt hat, was KLIMANEUTRALITÄT angeht. Man hat versprochen, in den nächsten Jahren verstärkt auf ein gesundes Klima zu achten und sich per sofort an acht Windkrafträdern in Nepal finanziell beteiligt, dass es erlaubt ist, das Unternehmen KLIMANEUTRAL zu nennen. Der eigene Fußabdruck, den die Menschen in Nepal durch ihr Engagement, zugegeben mit deutscher finanzieller Unterstützung, reduzieren können, wurde verkauft. Unfassbar.
Schon 1517 war es möglich, seine Sünden auf einen Schlag loszuwerden. Denn mit genug Geld konnte man sich davon freikaufen. Diese Ablasshandel führte dazu, dass Martin Luther seine 95 Thesen verfasste.
Verrückt, gute 700 Jahre später funktioniert das immer noch. Wenn ich im Internet danach suche, schreiben viele Firmen, dass es nichts mit Ablasshandel zu tun hätte. Schließlich hat nicht jeder die Möglichkeit, sofort durch echte Veränderungen KLIMANEUTRAL zu werden. Da sei es doch wohl besser, derartige Projekte zu unterstützen, als gar nichts zu unternehmen.
Das ist sicher richtig. Ich unterstütze seit sehr vielen Jahren die SOS-Kinderdörfer. Aber darf ich mir deshalb „guter Mensch und Kinderfreund“ auf meine Visitenkarte drucken? Das erzähle ich gar keinem, ich mache es einfach. Dass man Projekte unterstützt, da wo das Geld nicht reicht, ist lobenswert. Aber bin ich dadurch sofort KLIMANEUTRAL?
Folgendes angenommen: Ich bin ein absolutes Klima-Schwein. Kaufe ständig im Internet, schicke munter immer wieder meine absichtlich in verschiedenen Größen bestellten Klamotten zurück, sortiere meinen Müll nicht, mein Diesel ist von 1986 und macht so viel Dreck, dass ich keine langen Strecken fahren kann, weil es so stinkt. Ich fliege mehrfach im Jahr in den Urlaub, oft um die halbe Welt, mein Fernseher läuft fast rund um die Uhr, alle meine Geräte haben Energieklasse G und ich ernähre mich fast ausschließlich von Fleisch.
Meine alte Nachbarin ist genau das Gegenteil. Sie hat nur ein sehr geringes Einkommen, keinen Luxus zu Hause, verreist nie, isst wenig, aber achtet, soweit es geht, darauf, wo ihre Lebensmittel herkommen. Dafür erhält sie die Auszeichnung KLIMANEUTRAL und klebt das Etikett stolz auf ihren Briefkasten. Das nervt mich total, schließlich weiß ich ja, dass ich das Gegenteil bin. Also klingel ich bei Ihr, unterstütze sie ab sofort mit 100,- Euro im Monat, entferne das Etikett von ihrem Briefkasten und klebe es auf meinen. Ab sofort bin ich KLIMANEUTRAL, mache natürlich weiter, wie bisher. Schließlich investiere ich in eine gute Sache. Denn die alte Dame unter mir kann sich mit dem Geld demnächst eine modernere Heizung kaufen. Und das ist doch eine gute Sache, oder?
Also, wenn ich das nächste Mal bei einer Firma das Wort KLIMANEUTRAL lese, freue ich mich erst einmal nicht mehr zu früh. Denn nicht überall, wo dieses moderne Wort draufsteht, ist auch ein Klimaaktivist am Werk gewesen. Traurig eigentlich.