Leibesertüchtigung

Als Friedrich Ludwig Jahn, besser bekannt als Turnvater Jahn, im frühen 19. Jahrhundert körperliche Fitness als wichtigen Bestandteil der Erziehung ansah, konnte er nicht ahnen, wie sich der Sport verändern würde. Er trainierte damals junge Männer in Übungen wie Klettern, Laufen, Springen und an Turngeräten wie dem Barren oder Reck. Seine Ideen verbreiteten sich über Turnvereine, die im 19. Jahrhundert in vielen deutschen Städten gegründet wurden.

Die älteren Leser kennen vielleicht den Begriff „Leibesesertüchtigung“ tatsächlich noch. Offiziell wurde das Wort nach 1945 schrittweise durch zeitgemäßere Begriffe wie „Leibesübungen“ und schließlich „Sport“ ersetzt. Der Begriff „Sportunterricht“ ist seit den 1960er-Jahren etabliert.

Ich erinnere mich gut an meine Schulzeit, als Mädchen und Jungen noch getrennt Sportunterricht machten. Ich kann nicht behaupten, dass ich früher eine totale Sportskanone war. Ich muss eher zugeben, dass ich ab und an mal meine Sportsachen „vergessen“ hatte und so nicht teilnehmen konnte. Oft an Tagen, an denen es bereits vorher feststand, dass Handball auf dem Plan stand.

Wir hatten immer im Wechsel mit den Mädchen mal eine kleine Turnhalle und dann wieder eine Große. Die Kleine war so eng, dass einem beim Handball die Bälle oft nur so um die Ohren flogen. Alternativ konnte man aber auch seine Unterrichtsstunde ausschließlich mit Laufen verbringen. Also immer um den Sportplatz herum. Das hat mir mehr zugesagt.

Sehr unangenehm war es auch, wenn eine Mannschaft zur besseren Unterscheidung das Shirt ausziehen musste. Als Spargeltarzan, der ich damals eindeutig war, fühlte ich mich sehr unwohl. Heute ist das sicherlich, zum Glück, eher undenkbar.

Bewegung in der Kindheit war natürlich wichtig, aber hatte einen ganz anderen Stellenwert als heute. Heute weiß man, dass regelmäßiges Training, in welcher Form auch immer, vielen Krankheiten entgegensteuern kann und eine große Wahrscheinlichkeit besteht, fit bis ins hohe Alter zu bleiben.

Bewegung war im Alltag aber eine völlige Selbstverständlichkeit. Nach der Schule war man mit Freunden, so oft es ging, nahezu täglich bis zum Sonnenuntergang an der frischen Luft. Man hat gebolzt, ist mit dem Fahrrad gefahren, hat Fangen gespielt, war immer in Gange und fiel abends müde und erschöpft ins Bett. 

Das ist heutzutage komplett anders. Aktuellere Daten zeigen einen besorgniserregenden Trend: Zwischen 2011 und 2021 stieg die Zahl der stark übergewichtigen Kinder und Jugendlichen im Alter von 6 bis 18 Jahren bundesweit um 33,5 %. Besonders auffällig ist der Anstieg in der Altersgruppe der 15- bis 17-Jährigen, wo ein Zuwachs von 42 % verzeichnet wurde. Dem Smartphone sei Dank.

Als ich meine Ausbildung begann und meine Fußballkarriere an den Nagel hing, war es erst einmal vorbei mit sportlichen Aktivitäten. Da ich damals keine Lust hatte, in ein Fitnessstudio einzutreten oder sonstigen Mannschaftssport wahrzunehmen, entschied ich mich für ein Fitnessgerät für den Keller. Man konnte mit dem Gerät verschiedene Übungen machen, besonders um den Oberkörper zu stählen. Dafür kaufte ich mir sogar Fitness-Handschuhe. 

Ich kann nicht wirklich sagen, wie oft ich sie mir überzog, aber sehr oft war es nicht. Mal ehrlich, wer will schon in einem Keller, in dem viele Jahre zuvor Kohlen und Kartoffeln gelagert wurden, alleine Sport machen. Ich nicht. 

Irgendwann beschloss ich daher, das Gerät zu verschenken und zwei Freunden ins Fitnessstudio um die Ecke zu folgen. Die Beiden waren gut trainiert, hatten allerdings auch die besten Voraussetzungen und den richtigen Body dafür. 

Das Studio war nicht wirklich meine erste Wahl. Sehr viel wert auf Sauberkeit, vor allem im Duschbereich, legte man leider nicht. Meistens trainierte ich daher auch fast ausschließlich meine Zunge und mein Stehvermögen. Denn nach ein paar wenigen Übungen an einigen Geräten beschränkte sich mein Training auf eine Unterhaltung mit den beiden Freunden, während die fleißig trainierten. Der Vorteil war, ich musste danach nicht duschen, denn den einzigen Schweiß, den ich wahrnahm, war der in der Luft von anderen produziert.

Vor bereits etwa 20 Jahren entschloss ich mich, mit meiner damaligen Freundin, meiner späteren Verlobten und heutigen Frau, doch in ein Fitness- und Wellness Studio einzutreten. Damals war es ein absolutes Highlight, dass man auf einem Laufband über seine Kabelkopfhörer auf einem der bulligen Fernseher, die an der Wand montiert waren, fernsehen konnte. Am Laufband konnte man tatsächlich zwischen den verschiedenen Bildschirmen wählen, um sich das gewünschte Programm ansehen und anhören zu können. Verrückt!

Heute, viele Jahre später, laufe ich gerne an verschiedenen Orten. Manchmal liebe ich es durch den Wald zu laufen, manchmal durch San Francisco unter der Golden Gate hindurch, aber am liebsten durch die verschiedenen Nationalparks der USA. Durch den Gran Canyon bei Sonnenaufgang, ein Traum. Und man trifft auch nur wenige Menschen. Wenn ich meinen Blick dabei zur Seite schweifen lasse, beobachte ich meine Frau, wie sie neben mir auf dem Fahrrad fährt und mir immer wieder mal einen verliebten Blick zu wirft. Oftmals spornt mich das dann an, dass ich eine Weile sogar Geschwindigkeit 10 laufe. Blicke ich nach rechts, sehe ich motivierte Menschen, die versuchen die Treppen nach oben zu erklimmen, aber niemals oben ankommen. 

OK, das Ganze findet natürlich nicht an den beschriebenen Orten statt, sondern in unserem Fitness-Studio. Auf großen Screens kann ich mir meine Location aussuchen, in der ich mich bewegen möchte. Selbstverständlich wird mein Training aufgezeichnet und während des Laufens per Bluetooth meine Herzfrequenz auf dem Bildschirm angezeigt. Nach dem Training wird alles in einer App gespeichert. 

Nach dem Laufen gehts dann zum E-Gym-Zirkel. Ein E-Gym Zirkel ist ein modernes, digitales Trainingskonzept. Er kombiniert computergesteuerte Kraftgeräte mit intelligenter Software, um ein effizientes, effektives und personalisiertes Training zu ermöglichen. 

Nach jedem Training werden die Ergebnisse (z. B. Gewicht, Wiederholungen, Fortschritt) gespeichert und können über eine App eingesehen werden. Jedes Training dauert etwa eine Minute pro Gerät, gefolgt von einem kurzen Wechsel zur nächsten Station. Das Display zeigt die Bewegungsführung an, optimiert die Wiederholungen und gibt visuelles Feedback, z. B. ob die Geschwindigkeit und Ausführung korrekt sind. Man kann also eigentlich nichts falsch machen und benötigt keinen Trainer mehr. 

Vor dem ersten Training wurde eine Initialanalyse durchgeführt. Dabei wurden wichtige Parameter wie Maximalkraft, Bewegungsumfang und Körpergröße erfasst. Das Gerät schätzt dazu das Alter ein (bin etwas jünger) und hat mir an dem Tag auch angezeigt, dass ich zu wenig getrunken hatte. Verrückt, oder?

Meine Trainings- und Gesundheitsdaten sind alle in meiner App gespeichert, sodass ich jederzeit darauf zugreifen kann. Ist mein Puls zu hoch oder zu niedrig, entspricht meine Temperatur oder mein Blutsauerstoff nicht dem Normbereich, habe ich unruhig geschlafen, hatte ich zu wenig Atemzüge in der Nacht, alles wird protokolliert auf meiner Smartwatch. Laufe ich vielleicht doch mal in der Natur und stolpere, alarmiert sie automatisch den Rettungsdienst und sendet ihm meine genaue Position. 

Meine Eltern wussten früher die meiste Zeit gar nicht, wo ich mich mit meinen Freunden herumtrieb. Erst wenn ich abends kaputt mit aufgeschlagenen Knien von meinen sportlichen Aktivitäten wieder nach Hause kam, konnten sie mich mit ihren Augen orten. 

Von Leibesertüchtigungen zum E-Gym-Zirkel, willkommen im Hier und Jetzt. 

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