
Loslassen
Als ich in den Genuss kam, 2001 nach Japan zu fliegen, hatte ich nicht geahnt, dass ich bei dieser Reise völlig ungehemmt und aus voller Kehle mit wildfremden Menschen singen würde. Aber es kam so.
Diese unvergessliche Rundreise brachte mich in ein sehr traditionelles japanisches Hotel mit direktem Blick auf den berühmten 3.776 hohen Berg, den Fujijama. Wir bekamen gezeigt, wie man richtig einen Kimono trägt, hatten eine Wasch-Zeremonie und anschließend genossen wir in einem warmen Außenpool den freien Blick auf den Fuji.
Am nächsten Abend ging es dann in ein Karaoke Studio direkt im Hotel. Karaoke hat in Japan eine lange Tradition, wurde bereits in den frühen 1960er-Jahren erfunden und heißt übersetzt soviel wie „leeres Orchester“.
Unsere Reiseleiter und Reiseteilnehmer waren alle in einem Kimono gekleidet und starrten auf den Bildschirm. Vor so vielen Menschen zu singen ging natürlich nicht ohne das eine oder andere Glas Sake, den beliebten Reiswein in diesem Land. Bei mir mussten es schon ein paar Gläser mehr sein, bevor ich mir einen Songtext aus einer der vielen Listen aussuchte und zum Mikrofon griff. Und dann ging es tatsächlich los.
Aus voller Kehle wurde gesungen. Ich habe sogar einige Bilder davon, die mir im Moment noch zu peinlich sind, um sie hier zu veröffentlichen. Vielleicht mache ich das noch mal. Es war ein unvergessliches Erlebnis, alle haben sich so frei gefühlt. Einfach herrlich.
Fast 25 Jahre später hatte ich gemeinsam mit meiner Frau wieder so ein tolles Gefühl von „loslassen“.
Stell dir vor, du stehst mitten in einer riesigen Halle, um dich herum Tausende von Menschen. Die Lichter dimmen sich, die Band betritt die Bühne und beginnt die ersten Akkorde eines bekannten Liedes zu spielen. Ein sanftes Kribbeln breitet sich aus, eine erwartungsvolle Spannung liegt in der Luft. Dann erscheint der Songtext auf der großen Leinwand und plötzlich setzt ein kollektiver Gesang ein. Tausende Stimmen verschmelzen zu einer einzigen, kraftvollen Welle. Du bist mittendrin, singst laut mit, egal, ob schief oder richtig und fühlst dich dabei so frei wie schon lange nicht mehr.
Genau dieses unglaubliche Gefühl durfte ich kürzlich bei „Kiel singt“ in der Wunderino Arena erleben und es war einfach magisch. Die Band leitete uns gekonnt durch die Songs, der Text leuchtete riesig auf dem Bildschirm und nach kurzer Übung stand die ganze Halle auf und sang aus voller Kehle mit. Dieser Moment, wenn sich tausende Stimmen zu einer Einheit verbinden, löste eine Gänsehaut nach der anderen aus. Es war mehr als nur Singen, es war ein Gefühl von Gemeinschaft, von Loslassen, von absoluter Freiheit.
Doch warum macht gemeinsames Singen so viel Spaß? Ich habe dazu einmal recherchiert:
Beim Singen werden Glückshormone wie Endorphine und Dopamin freigesetzt. Das sorgt für ein natürliches Hochgefühl und baut Stress ab. Kein Wunder, dass wir nach solchen Events oft mit einem breiten Lächeln nach Hause gehen!
Oxytocin, das Bindungshormon:
Gemeinsames Singen fördert die Ausschüttung von Oxytocin, dem sogenannten „Kuschelhormon“. Es stärkt das Gefühl der Verbundenheit und des Vertrauens, genau das spürt man, wenn man mit tausenden Fremden zusammen ein Lied singt und plötzlich diese emotionale Nähe entsteht.
Atmung und Herzschlag synchronisieren sich:
Studien zeigen, dass sich beim gemeinsamen Singen der Atem und sogar der Herzschlag der Teilnehmer synchronisieren. Das erzeugt ein Gefühl von Harmonie und Gemeinschaft, als würde man wirklich „eins“ werden mit der Masse.
Loslassen und Freiheit erleben:
Wenn du singst, musst du den Kopf ausschalten. Es geht nicht um Perfektion, es geht darum, dabei zu sein, Spaß zu haben und den Moment zu genießen. Gerade in einer Gesellschaft, die oft von Leistungsdruck geprägt ist, wirkt das wie eine befreiende Pause vom Alltag.
Der besondere Zauber von „Kiel singt“:
„Kiel singt“ war genau das: Ein sicherer Raum, um loszulassen. Keiner hat bewertet, keiner hat auf falsche Töne geachtet, es ging nur darum, die Musik zu fühlen und gemeinsam zu erleben. Es gab diese Momente, in denen die Halle vollkommen eins war, wenn die Stimmen der Menge sich wie eine große Welle erhoben und man sich selbst plötzlich nicht mehr als Einzelperson, sondern als Teil eines großen Ganzen fühlte.
Und genau das macht den Reiz aus: Wir Menschen sind soziale Wesen. Wir sehnen uns nach Verbindung und nach Momenten, in denen wir uns verstanden und akzeptiert fühlen. Gemeinsames Singen verbindet, ohne Worte, ohne Erklärungen, einfach durch das Teilen von Musik und Emotion.
Wir waren nach diesem Abend vollkommen euphorisiert – mit einem Lächeln im Gesicht und heiseren Stimmen. Und wir wussten sofort: Das war nicht das letzte Mal! Die Aussicht, bald wieder in der Halle zu stehen, die Texte auf der Leinwand zu lesen und mit anderen Menschen gemeinsam aus vollem Herzen zu singen, erfüllt uns schon jetzt mit Vorfreude.
„Kiel singt“ hat uns gezeigt, wie heilsam und kraftvoll gemeinsames Singen sein kann. Es geht nicht darum, ob du gut singen kannst, es geht darum, dass du singst. Zusammen. Mit anderen. Laut, schief und voller Freude. ❤️
Wann hast Du das letzte Mal gesungen?