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Mikrorisse

Eigentlich weiß man es hierzulande gar nicht zu schätzen, wenn man mit dem Auto unterwegs ist und der Verkehrssender eine Warnung herausgibt, dass sich auf einer bestimmten Straße Gegenstände befinden. 

Bei unseren Besuchen in den USA wären wir manchmal dankbar gewesen. Auf den Highways hatten wir des Öfteren Begegnungen mit diversen Gegenständen, bei denen es sich nicht immer um Kleinigkeiten handelte. Geplatzte Autoreifen sind dort an der Tagesordnung, also zumindest die Überreste davon. Die Qualität der Reifen, der Straßen und die oft hohen Temperaturen scheinen denen generell zuzusetzen. Nicht nur einmal wurden wir Zeugen, als ein Fahrzeug vor uns der Reifen in voller Fahrt platzte. Bei einem Tempo von maximal etwa 130 km/h kann man, wenn man Glück hat, vielleicht gerade noch dagegen steuern. Aber den Müll von der Straße zu nehmen, auf die Idee scheint niemand zu kommen. 

Ob ein Holzstuhl, ein kleines Sofa, es tauchte schon so einiges vor unserem Wagen auf. Das größte, was ich einmal überfahren musste, war ein Wäschekorb aus Plastik. Ich konnte auch nicht mehr ausweichen und fuhr direkt darüber. Glück im Unglück, der Korb bestand nicht aus stabilen Plastik, so wie bei uns die meisten Wäschekörbe gebaut sind. Er zersplitterte in tausend Teilchen, als wir da rüber bretterten.

Doch zum normalen Straßenbild gehören da nicht nur plötzlich auftauchende Gegenstände, sondern auch Schlaglöcher in der Größe einer übergroßen, genmanipulierten Wassermelone. 

Ob das die Achsen der Autos aushalten, wenn man da mit dem Reifen herüberfährt? Also kurz gesagt, die Straßen in anderen Ländern sind nicht immer im allerbesten Zustand, das haben wir auch schon anderswo öfter erlebt. In den USA arbeiten dann oft zig Bauarbeiter anscheinend Rund um die Uhr an den Fahrbahnen. Nachts wird geschweißt und gearbeitet, wir wunderten uns dann oft, wenn wir einen Blick auf die Uhr warfen. 

Bei uns zu Hause in Deutschland sind Wäschekörbe oder Stühle auf der Straße eher eine Seltenheit. Bauarbeiter, die über längere Zeit nachts an den Straßen arbeiten, ebenfalls. Löcher, wenn auch nicht in der Größe einer Melone, aber schon. 

Es gibt in unserer Landeshauptstadt Straßen, bei denen hat man das Gefühl, sie sind generell in einem desolaten Zustand. Wenn man mal wieder über sie fährt, wundert man sich, wie das überhaupt sein kann. Löcher und Flickenteppiche, wo das Auge hinsieht. Doch bereits bei der nächsten Fahrt muss man feststellen, dass die Straße mal wieder gesperrt ist. Oft ist es dann erst einmal eine Seite über viele Kilometer. Es kommt zu langen Staus, doch von Bauarbeitern keine Spur. 

Das kann dann schon mal eine Weile so weitergehen, bis dann plötzlich die ersten Baufahrzeuge zu sehen sind und einige Bauarbeiter. Es wird dann ein Teil der Straße aufgerissen und gearbeitet, der andere lange gesperrte Abschnitt bleibt oftmals über Wochen verweist. Dort passiert dann gefühlt ewig nichts. 

Manchmal kommt es dann dazu, dass direkt daneben eine andere Straße parallel aufgerissen und dort ebenfalls dran gearbeitet wird. Dann ist das Verkehrschaos oft perfekt. 

Warum nicht Abschnitt für Abschnitt gearbeitet wird und eine Baustelle nach der anderen, ist mir oft ein Rätsel. Man hat das Gefühl, es wird sich nicht abgesprochen. Und warum muss alles immer so lange dauern?

Am 30.11.2022 rammt ein finnisches Schiff, das einen 38 Meter hohen Spezialkran an Bord hat, die Holtenauer Hochbrücke. Die Brücke wird dabei stark beschädigt und muss instand gesetzt werden. Eine lange Zeit geht gar nichts, dann wird ein Brückenteil wieder freigegeben. Der Verkehr staut sich trotzdem, die Überfahrt dauert ewig. Die armen Pendler.

Erst ein Jahr später, am 22.12.2024, wird die Brücke nach erfolgreicher Reparatur wieder komplett freigegeben. Wie gesagt, ein Jahr später. 

Apropos Brücke. Bei Lindaunis soll eine neue Brücke über die Schlei gebaut werden. 2023 sollte diese in Betrieb genommen werden. Dafür sollten eigentlich die Arbeiten Ende 2016 starten. Doch durch das Eisenbahn-Bundesamt kam es bei der Genehmigung des Baus zu Verzögerungen. Diese Verzögerung dauerte bis Juli 2019, als der Bau dann endlich genehmigt wurde. 2020 begannen die Vorbereitungen für den Bau der Pfeiler und den Damm. 2021 mussten die Bauarbeiten unterbrochen werden, da die alte Klappbrücke dadurch behindert wurde und Instandhaltungsmaßnahmen an dieser durchgeführt werden mussten. Dadurch wurde die planmäßige Fertigstellung der neuen Brücke auf 2025 verschoben. Die geplanten 46 Millionen Euro wurden auf 84 Millionen korrigiert.   

Doch durch neue Richtlinien, die das Eisenbahn-Bundesamt jetzt eingeführt hat, muss nun die Planung für die Brücke zurück auf Anfang gestellt werden. Durch die Neuauflagen wird das Projekt neu ausgeschrieben und erst Ende des Jahres wird überhaupt feststehen, welches Unternehmen den Auftrag erhält und wie lange die Arbeiten dauern werden. Wie gefühlt generell bei Vorhaben dieser Art, werden die veranschlagten Kosten von 84 Millionen Euro nicht zu halten sein. 

Kurzer Sprung nach China. Während der Corona-Pandemie haben die Chinesen ein Krankenhaus per Schnellbauweise gebaut. Grundfläche 34.000 Quadratmeter, 1000 Betten. Am 23. Januar wurde ein Bauunternehmen mit dem Projekt beauftragt. Bereits zwei Tage später wurde mit mehr als 7500 Arbeitern in Schichtbetrieb Tag und Nacht daran gearbeitet. Der Bau bis zur Fertigstellung dauerte weniger als zwei Wochen. 

Zurück zu uns. Vor einer Weile bekamen wir in der kompletten Nachbarschaft per Schreiben mitgeteilt, dass ein großer Abschnitt einer Parallelstraße relativ kurzfristig komplett neu geteert werden sollte. Währenddessen stünden selbstverständlich die sowieso schon wenigen Parkplätze nicht zur Verfügung. 

Natürlich unterhält man sich mit einigen Nachbarn. Alle zuckten ratlos mit den Schultern. Die Straße sah aus wie neu. Kein einziges Schlagloch, alles schier und glatt, als wäre sie erst vor ein paar Tagen erneuert worden. Auch ich bin die Straße einmal komplett abgeschritten, absolut nichts zu sehen. Ich hatte dann die vielen Löcher in den vielen Straßen überall in der Nähe vor Augen, aber hier? Wenn alle Straßen so wären, gäbe es keine einzige Baustelle bei uns. 

Auf Nachfrage meinerseits beim zuständigen Amt bekam ich tatsächlich eine Antwort. Die ließ natürlich lange auf sich warten. „Mikrorisse“ lautete die Antwort. Man hätte auf der Straße Mikrorisse festgestellt. Daher hat man sich entschlossen, sie lieber zu erneuern. Unfassbar!

Noch unfassbarer und tragisch ist, dass tatsächlich die komplette Straße aufgerissen wurde und während der Baumaßnahmen ein 28 Jahre alter Bauarbeiter versehentlich von einem Kollegen mit einem Baufahrzeug überrollt und so schwer verletzt wurde, dass er kurze Zeit darauf im Krankenhaus verstarb. 

Wirklich unfassbar! Und das alles wegen Mikrorissen. Als hätten wir nicht genug andere Baustellen in der Stadt. 

Immer wenn ich jetzt auf dieser Straße entlang gehe, muss ich an das Wort Mikrorisse und den armen Bauarbeiter und seine Familie denken.