Selbstverständlich

Vielleicht kennt Ihr das auch. Man sitzt auf dem Sofa, schaut noch etwas im Fernsehen und merkt, wie einem langsam die Augen zufallen. Schaut man zu seiner Partnerin, bemerkt man, ihr geht es ähnlich. Statt aber nun ins Bett zu gehen, schließlich liegt ein ausgefüllter Tag vor einem, kuschelt man sich lieber aneinander und stellt den Fernseher etwas leiser. Man macht es sich gemütlich, genießt die Situation und während der Ton immer weniger wahrgenommen wird, fallen einem langsam die Augen zu. Will man den Tag einfach noch nicht beenden, ihn in die Länge ziehen? Keine Ahnung, woran es liegt, bequemer und für den Rücken eindeutig besser, wäre der Weg ins Schlafzimmer gewesen.

Egal. Mitten in der Nacht werde ich wach und schaue zur Uhr. Erst nach einer Weile kann ich erkennen, wie spät es ist. 1:32 Uhr! Nun aber nichts wie ins Bett. Vorsichtig wecke ich meine Frau, die gar nicht begeistert davon ist, aber dann, noch halb schlafend, sich sofort auf den Weg ins Schlafzimmer macht. Alle Lichter und der Fernseher ausgeschaltet, folge ich ihr. 

3:31 Uhr, erneuter Blick auf die Uhr. Wie blöd, ich habe zu spät noch meinen Ingwer-Tee getrunken, der treibt immer. Also, ab geht’s auf die Toilette. Ich spüre, wie mein Hals sich trocken anfühlt, lasse im Waschbecken im Bad den Wasserhahn etwas laufen und mit halb geschlossenen Augen trinke ich ein paar Schlucke kühles Wasser aus meiner Hand. Das tut gut! Wenige Augenblicke später liege ich bereits wieder im Bett und freue mich auf „den Moment“ am nächsten Morgen!

6:30 Uhr, der Wecker klingelt, schon wieder ist die Nacht und das Wochenende vorbei. Wo ist die Zeit schon wieder geblieben, denke ich leicht genervt. Nachdem ich mich frisch gemacht habe, kuschle ich mich noch einen Moment an den warmen, schlafenden Körper meiner Frau. 

7:10 Uhr, ich nehme den Müll mit runter, trenne ihn natürlich vorbildlich und treffe auf dem Weg zum Bäcker einen Nachbarn. Auch der scheint noch müde zu sein. Ein kurzer, freundlicher Schnack und schon betrete ich den Bäcker. Ich schaue in die Auslagen. Fertige, lecker belegte Brötchen, eine große Auswahl an verschiedenen Kuchen und Torten, zig verschiedene, frische, teilweise noch warme Brötchen und andere Leckereien backhandwerklicher Köstlichkeiten erfreuen mein Auge. Heute darf es mal zu meinen Brötchen auch eine Rumkugel sein.

Mein Blut wurde ja bereits am Freitag abgenommen, die Blutwerte erfahre ich gleich. Da kann etwas mehr Cholesterin heute nicht schaden, rede ich mir diese Kalorienbombe schön. Um 8.00 Uhr habe ich einen Termin bei meinem Arzt des Vertrauens. Blutwerte sehen alle gut aus, sagt er, dann wollen wir mal den Jahrescheck durchführen. Nach etwa einer guten Stunde bin ich fertig, alle Untersuchungen sind bestens verlaufen. Ergebnis, ich bin gesund! 

Auf dem Weg in die Firma ruft mich mein Schwiegervater auf meinem Handy an. Der Steuerbescheid ist fertig, berichtet er stolz. 

Es ist gegen 17 Uhr, als ich Feierabend habe. Die Zeit beim Arzt habe ich natürlich vorgearbeitet. Auf dem Weg nach Hause noch mal kurz einkaufen. Wie wäre es heute mit einem kleinen Steak, denke ich und lasse uns zwei besonders leckere am Tresen einpacken. Ein großes für mich und ein kleines für meine Frau. Ihr ist Fleisch nicht so wichtig, eher das Gemüse. 

Neben meinen Einkäufen sind auch ein paar Besorgungen für meine Mama dabei, unter anderem auch ihre Lieblingsnaschis. Die reiche ich ihr kurz nach oben, unterhalte mich noch eine Weile mit ihr und genieße die gemeinsame Zeit, um dann wieder loszugehen. Endlich zu Hause.

Schnell noch eine Sache erledigen. Ich muss noch für unsere nächste USA-Reise den Einreiseantrag ausfüllen. Fragen wie, wo bist Du geboren und andere sind schnell zu beantworten. Fertig. Die Reise ist bereits gebucht, alles hat geklappt, wie immer. 

Auch meine Frau hat Feierabend gemacht und möchte noch einen kurzen Spaziergang unternehmen. Also genießen wir den fantastischen Abendhimmel (Foto) bei einer Runde am Wasser. Wieder zu Hause angekommen bereiten wir das Essen vor. Sieht klasse aus, das Steak, der Salat, die Kartoffeln, alles wieder perfekt.

Als wir beide satt sind, lassen wir den Tag noch einmal kurz Revue passieren. Es folgt ein anregendes Gespräch, zum Glück haben wir beide uns immer viel zu erzählen. „War etwas Besonderes“, fragt meine Frau am Ende dieses Tages? „Nein, nicht wirklich“, entgegne ich ihr und wir gehen nach einem spannenden Film gemeinsam zu Bett.

Doch vor dem Einschlafen überdenke ich den Tag erneut: 

Ich sehe mich mit meiner Frau am Tag zuvor wieder einmal vor dem Fernseher einschlafen, eng zusammen gekuschelt. Nichts Besonderes, also völlig selbstverständlich, denke ich? Nein, wie viele Menschen haben keinen Partner, oder einen, mit dem sie nicht so gerne Zeit verbringen, wie ich. Wie viele Menschen haben keine Wohnung oder fühlen sich darin nicht wohl? Können sich keinen Fernseher leisten.

Dann denke an den Moment zurück, als ich zur Toilette musste und mein Hals gekratzt hat. Ich erinnere mich, als ich eine Handvoll Wasser aus dem Hahn trank, völlig selbstverständlich. Ist es das, überlege ich plötzlich. Wasser aus dem Hahn trinken zu können ist alles andere als selbstverständlich. In wie vielen Ländern ist das möglich? Oder anders herum, in wie vielen nicht? 

Nun werde ich langsam wieder wacher und denke weiter Schritt für Schritt zurück.

An den Moment, als ich aufgewacht bin und mich für den Tag frisch gemacht habe. Völlig normal, wie an jedem anderen Tag. Aber wie viele Menschen wachen morgens auf und sind eingeschränkt, haben Sorgen und können nicht so befreit in den Tag starten. Oder wachen vielleicht einfach gar nicht mehr auf.

Als ich mich dann den Müll herunter bringen sehe, denke ich nach. Daran ist ja nun wirklich nichts Besonderes. Aber die Tonnen werden immer pünktlich geleert. Man braucht sich gar keine Gedanken zu machen. Dabei produzieren wir doch zu zweit schon eine Menge Müll, der, ohne dass wir darüber nachdenken müssen, verarbeitet wird. Einfach so, Woche für Woche, Jahr für Jahr. Man wirft den Müll in die Tonne und das war´s. Was für ein Luxus! Ich muss mich unbedingt mal bei den Mitarbeitern der Müllabfuhr bedanken!

Das Schwätzchen mit meinem Nachbarn erscheint vor meinen Augen. Aber das war ja nur kurz, nicht wert, darüber nachzudenken. Aber wie viele Menschen verstehen sich nicht mit ihren Nachbarn, reden kein Wort miteinander. Also doch auch etwas Besonderes! 

Ich betrete kurz nach sieben Uhr die Bäckerei, alle Auslagen sind bestückt, alles frisch zubereitet. Wann haben die Mitarbeiter damit angefangen, warum sind sie hinter dem Tresen schon am frühen Morgen so freundlich, packen meine Ware liebevoll ein? Wäre ich an ihrer Stelle so früh schon genauso gut drauf und freundlich? Ich weiß es nicht, aber spüre Dankbarkeit in diesem Moment. 

Der Besuch bei meinem Arzt, der ja regelmäßig auf meiner Tagesordnung steht. Wie viele Krankheiten gibt es eigentlich? Eine ganze Menge, denke ich erschrocken. Und ich gehe zum Arzt in dem Gedanken, dass alles gut sein wird. Klar, umgekehrt wäre das auch kontraproduktiv, aber selbstverständlich ist es auf keinen Fall, wenn mein Arzt mit meiner Gesundheit komplett zufrieden ist. Das ist ein Geschenk, das man zu schätzen wissen muss! 

Das Telefonat mit meinem Schwiegervater. Wie schön, dass wir regelmäßig Kontakt miteinander haben und uns so gut verstehen. Kann auch nicht jeder von sich behaupten. 

Mein Arbeitstag war anstrengend. Aber keine besonderen Vorkommnisse! Doch, dass ich einen Job habe, und das schon seit Jahrzehnten. Das ist etwas, was leider viele nicht von sich behaupten können. Das ist ein Privileg. 

Mein Einkauf auf dem Weg nach Hause kommt mir in Erinnerung. Alles so, wie eigentlich jeden Tag. Aber kann sich jeder einfach mal so etwas Besonderes kaufen, ohne groß rechnen zu müssen? Wie viele Familien, Alleinstehende, Menschen, wie Du und ich, müssen peinlichst genau darauf achten, was sie kaufen und wie lange sie mit ihrem Geld einen Monat auskommen, ihre Kinder, ihre Familie satt bekommen.

Und die Lebensmittel. Hätten wir keine Bauern hätten wir auch nichts zu essen. Ein sehr schwerer Beruf, der gar nicht richtig wertgeschätzt wird. 

Der Besuch bei meiner Mama. Wie schön ist es, eine Mutter zu haben. Das sage ich ihr sehr oft, aber auch wirklich oft genug? 

Mein Antrag für die Einreise in die USA. Als ich wie selbstverständlich angegeben habe, Geburtsort Deutschland. Konnte ich mir das aussuchen? Nein, ich hatte riesiges Glück in einem der reichsten Länder der Erde geboren zu werden. Wie viele Menschen auf der Welt würden gerne an meiner Stelle sein. Und verreisen zu können, ist auch etwas ganz Besonderes. 

Erst der Abendspaziergang, dann das Abendessen mit meiner Frau.  Es war nicht nur die totale Entspannung, sondern das Essen lecker, unser Gespräch, die Harmonie, die Gemeinsamkeiten, jede Berührung, waren einzigartig. 

Ich streichle meine Frau, die bereits seit einer Weile schlief. „Es war doch etwas Besonderes heute“, flüsterte ich und machte sie wach! „Was war denn“, fragte sie verschlafen. „Der ganze Tag war besonders und ganz und gar nicht selbstverständlich“, sagte ich leise, kuschelte mich an sie und fuhr fort, „der ganze Tag war etwas Besonderes, genau wie sämtliche Tage zuvor“, und gemeinsam schliefen wir dankbar und zufrieden ein!