Man muss auch mal Glück haben

Eigentlich war es eine ganz normale Woche. Oder besser gesagt, eine ganz normale Arbeitswoche. Montags bis freitags steckt man die meiste Zeit in der Firma. Nach Feierabend noch zum Sport, spazieren gehen, einkaufen und schon heißt es wieder, Abendessen.

Wenn weder Wochenenddienst noch Schichtarbeit zu deinen Gewohnheiten zählt, ist man schon privilegiert. Trotzdem bleibt einem gefühlt wenig Zeit. 

Als ich in dieser Woche aus dem Fenster schaute, blieben meine Augen an einem Mann kleben. Geschätzt war er Ende 50 oder Anfang 60, hatte graumelierte Haare und sah von meiner Position sehr fit aus. Das Besondere an ihm, was mir sofort auffiel, war sein Gang. Er ging fast wie in Zeitlupe. Anscheinend nicht, weil er es musste, sondern weil er es wollte. Die Zeit schien für ihn keine Rolle zu spielen. Er schritt den Weg mit äußerster Gelassenheit an meinem Fenster vorbei. Es sah aus, als hätte er den ganzen Tag Zeit für seinen Spaziergang. Beneidenswert, dachte ich und schaute auf die Uhr. Nun wird es aber Zeit zur Arbeit zu kommen. 

Gefühlt war es Mittwoch, in Wirklichkeit aber schon wieder Samstag. Mein absoluter Lieblingstag. Möglichst einigermaßen früh aufstehen, den Tag ausnutzen. Meistens laufen wir ja an diesem Tag unsere 25 bis 30 Kilometer, mit einem Rucksack auf dem Rücken und eigentlich immer guter Laune im Gepäck. Neben einigen Snacks und ausreichend zu trinken, versteht sich von selber. 

Am Abend haben wir dann mal wieder lecker zusammen gekocht und den Abend genossen. Es war gegen 23:30 Uhr, als ich auf mein Handy schaute. Lottozahlen kontrollieren. Ich will nicht sagen, dass ich spielsüchtig bin, aber das eine oder andere Glücksspiel steht schon wöchentlich auf meinem Plan. OK, die Lotto-App zeigte einmal mehr, „dieses Mal haben sie leider nicht gewonnen. Vielleicht beim nächsten Mal“. Warum kontrolliere ich das überhaupt noch, dachte ich genervt. OK, was ist mit meinen Losen „Aktion Mensch“. Die spiele ich auch schon eine ganze Weile. Zwar erfolglos für mich, aber für einen guten Zweck. Das heitert mich dann immer auf. Doch dieses Mal stand etwas anderes auf meiner App. „Glückwunsch, sie haben gewonnen“. Na endlich mal wieder, dachte ich komplett entspannt. Vielleicht zumindest den Einsatz von 10,- Euro mal wieder raus. 

Als ich dann auf die Benachrichtigung schaute, wollte ich meinen Augen nicht trauen. Sie haben den Hauptpreis gewonnen, herzlichen Glückwunsch. Ihre Gewinnklasse Rang 1, Kombigewinn, 750.000 Euro Sofortgewinn zuzüglich 3750,- Euro monatlich, 20 Jahre lang. Meine Augen wurden größer, mein Herz raste, meine Hände begannen zu zittern. Das kann doch gar nicht wahr sein. Ich schloss die App, öffnete sie erneut. Gleiche Anzeige. Ich schaltete mein iPhone komplett aus, startete es erneut, öffnete die App, immer noch dieselbe Anzeige. 

Ich schaue zu meiner Frau herüber, die bereits auf dem Sofa eingeschlafen war. Was mache ich zuerst, Sekt auf, Frau wecken oder einfach laut schreien und an die Decke springen. Das kann doch nicht wahr sein, dachte ich immer wieder. Ich ging leise an unseren Barschrank und schenkte mir einen Kurzen ein, den ich hastig austrank. Den Zweiten dann mit Genuss.

OK, was steht jetzt auf dem Plan, dachte ich. Nicht jetzt sofort, aber in den kommenden Tagen. Mit 3750,- Euro kommen wir ja zu zweit locker aus und haben dann 750.000 Euro auf dem Konto. Unfassbar! Wir brauchen beide nicht mehr zu arbeiten. Bei dem Gedanken, zu kündigen, schlug mir dieser auf den Magen. Wie macht man das? Irgendwie wird mir doch was fehlen. Ach was, wir können nun ab sofort die Welt noch öfter bereisen. Jeder Tag ist ein Urlaubstag. Aber ich muss auf jeden Fall auch etwas Gutes machen. Vielleicht bei der Tafel anfangen, im Obdachlosenheim aushelfen, was auch immer. Meine Gedanken überschlugen sich. Mein Puls ging in die Höhe. 

Ich beschloss, bis zum nächsten Tag zu warten, um es meiner Frau mit einem ausführlichen Frühstück zu erzählen. Sie wird ausrasten. Aber wem erzählen wir etwas, wem lieber nicht. Jeder, der mitbekommt, dass wir beide gekündigt haben, wird sich so etwas doch denken können. Müssen wir jetzt umziehen, neu anfangen, um alles geheim zu halten? Ein Schauer lief mir über den Rücken. 

Erst einmal meine Gedanken sortieren. Ich weckte vorsichtig meine Frau und sofort gingen wir ins Bett. Sie hatte kaum die Augen geöffnet, taumelte nur über den Flur, um dann wieder sofort im Bett einzuschlafen.

Meine Gedanken kreisten wie wild umher. Soll ich vielleicht doch aufstehen, sie wecken? Kann ich noch jemanden anrufen? Der Blick auf die Uhr verriet mir, dass das um 1:30 Uhr keine gute Idee wäre und generell auch fraglich. Das ganze Grübeln machte mich plötzlich auch müde, der Schnaps tat sein Übriges dazu. 

Der Wecker klingelte, oder besser gesagt, Alexa spielte ihre Musik. Abrupt kam ich im Bett zum Sitzen, starrte auf die Uhr. Wieso klingelt am Sonntag der Wecker? Meine Augen benötigten eine Weile, um das Datum auf meiner Uhr zu erkennen. Tatsächlich, es war Montag. Was war geschehen? Wo ist mein Sonntag. Der Gewinn, dachte ich erschrocken und sprang aus dem Bett. Ich schnappte mir mein Handy, öffnete die App der Aktion Mensch. Wild scrollte ich rauf und runter, aber alles, was mir angezeigt wurde, war, „dieses Mal haben sie leider nicht gewonnen“. Ich konnte es nicht fassen. Ich schaute zum Himmel. Das kann doch nicht dein ernst sein, oder etwa doch? 

Ich hatte es nur geträumt. Meine Lose hatten gar nicht gewonnen, kein einziges. „Kommst du noch etwas kuscheln“, hörte ich dann die Stimme meiner Frau. Ich war traurig, freute mich dann aber auf das Kuscheln. OK, sollte nicht sein. Ist es besser so, dachte ich enttäuscht. Wozu brauche ich einen Hauptgewinn? Ich kuschelte mich an meinen Lieblingsmenschen. Den habe ich doch schon lange. 

 

 Foto: Brett Jordan