Ist der Lack ab?

Eigentlich sollte es ein richtig schöner Abend werden. Allerdings wurde es einer, den ich wahrscheinlich die nächsten Jahre, wahrscheinlich sogar mein Leben lang, nicht mehr vergessen sollte.

James Blunt war „in the house“ und nach zwei Jahren Corona endlich wieder das erste Konzert. Es wurde mehrfach abgesagt und so warteten wir bereits eine sehr, sehr lange Zeit auf diesen Tag. Das erste Mal wieder mit tausenden von Menschen, auf engem Raum, war aber, bei aller Freude, auch eine emotionale Herausforderung. Es herrschte zwar offiziell noch Maskenzwang, an den sich aber sehr viele nicht mehr hielten. 

Dazu kam, dass wir unser neues Auto gerade erst einmal seit zwei Monaten hatten. Wir mussten uns also erst noch an die vielen technischen Raffinessen gewöhnen. Als wir vor dem Konzert auf den Parkplatz fuhren, war es schon recht voll und ging, wie bei einer Großveranstaltung so üblich, recht hektisch zu. Ich war begeistert, dass beim Rückwärtsfahren das hintere Fahrzeug sehr gut zu sehen ist und auch akustisch gewarnt wird, wenn sich ein Objekt nähert. Um so geschockter war ich, als wir merkten, dass wir etwas berührt hatten. Erschrocken stiegen wir aus und schauten nach. Das weiße Fahrzeug hinter uns hatten wir tatsächlich touchiert. Das stand nicht wirklich in der vorgegebenen Parkmarkierung, vielleicht hatte darum weder ich noch die Elektronik unseres Wagens es wahrgenommen. Merkwürdig war das schon. Wir schauten uns die Wagen näher an und ich sah an unserem Wagen einen kleinen, weißen Strich. Vielleicht tatsächlich vom anderen Fahrzeug? Ich war erleichtert, als ich diesen Strich mit etwas Spucke wegwischen konnte. Von schwarzen Lackspuren durch unseren Wagen konnten wir an dem anderen Fahrzeug nichts ausmachen, zum Glück. 

Ein Stück weiter hatten das Ganze, sicherlich auch Konzertteilnehmer, beobachtet. Ich spürte ihre Blicke und war erleichtert, dass wir keinen Schaden verursacht hatten. Also ging es endlich Richtung Konzerthalle. 

Das Konzert war trotz der Corona-Einschränkungen ein voller Erfolg. Wir waren begeistert, den Zwischenfall beim Einparken hatte ich bereits fast wieder vergessen.

Ein paar Wochen später bekam ich Post von der Polizei. Ich wurde befragt, ob ich Angaben zu einem Vorfall am Konzerttag machen könnte, bei dem ein Fahrzeug beschädigt wurde. Erschrocken ließen wir den Abend noch einmal Revue passieren, waren sehr verwundert, dass obwohl wir nichts feststellen konnten, nun doch ein Schaden entstanden sein sollte.

Genauso, wie wir es erlebt hatten, schilderten wir schriftlich, was geschehen war und sendeten das Schreiben zurück. Wieder eine Weile später hatte ich einen Anruf von der zuständigen Polizeibehörde. Der freundliche Beamte befragte mich zum Geschehen und ob er es richtig verstehen würde, dass ich derjenige bin, der den Schaden verursacht hätte. Ich erzählte dann noch einmal wahrheitsgemäß, was sich an dem Abend ereignet hatte und der Polizist unterbrach mich mit dem Hinweis, besser nichts dazu zu sagen und eventuell meine Rechtsschutzversicherung einzuschalten. Dann schickte er mir ein neues Schreiben zu, in dem ich nicht mehr als Zeuge, sondern als Verursacher Angaben machen sollte.

Behördenschreiben sind, wenn man nie damit zu tun hat, nicht so einfach zu verstehen. Bei einem Punkt wusste ich tatsächlich nicht, was ich eintragen sollte. Ich beschloss, schließlich zahlt man oft jahrelang seine Rechtsschutzversicherung, ohne sie zu benötigen, diese tatsächlich sicherheitshalber um Rat zu fragen. Man ruft dazu eine Telefonnummer an, schildert kurz, worum es geht und wird dann zu einem x-beliebigen Anwalt durchgestellt. 

Dieser hörte sich den Sachverhalt an und überraschte mich dann mit seinem Rat. Ich solle das Schreiben nicht ausfüllen. Je mehr ich angebe, um so höher kann die Strafe werden. Weder zum Beruf, zum Einkommen, noch zum Sachverhalt. Ich war sehr überrascht, nahm meinen Korrekturroller und entfernte, wie er geraten hatte, meine Berufsbezeichnung, und unterschrieb lediglich das Schreiben. 

Das kam mir allerdings schon recht befremdlich vor. Schließlich ist es ein behördliches Schreiben, kann ich das einfach ignorieren und keine Angaben machen, dachte ich irritiert. Ich war sehr unsicher und beschloss, meine Rechtsschutzversicherung erneut anzurufen. Wieder schilderte ich den Vorfall und auch den Rat des Anwaltes und wurde wieder durchgestellt, dieses Mal zu einem anderen Anwalt. 

Nach kurzer Überlegung schloss er sich dem Rat seines unbekannten Kollegen an. Nichts ausfüllen. Je mehr man recherchieren muss, um so weniger Lust hat man, Zeit und Arbeit zu investieren und will den Fall nur erledigt haben. Um ein Bußgeld würde ich zwar nicht mehr herumkommen, aber das wäre im Normalfall auch nicht so schlimm. Wenn ich Pech hätte, könnten sogar einige hundert Euro auf mich zukommen. 

Ich war erschrocken bei dem Gedanken, füllte also außer meinem Namen und meiner Anschrift nichts Weiteres aus. Mit einem unguten Gefühl im Bauch steckte ich das Schreiben ein und hoffte, dass meine Strafe nicht so hoch ausfallen würde. Hätte ich bzw. wir an dem Abend tatsächlich einen Schaden festgestellt, hätte ich die Polizei gerufen und es meiner Versicherung gemeldet. Wir sind Vollkasko versichert, hatten noch nie einen Schaden. Insgesamt fahre ich viele Jahrzehnte unfallfrei. Es wäre also kein Problem gewesen, „Farbe zu bekennen“. Da aber nun einmal ein schwarzes Auto beim Anfahren eines weißen Autos auch schwarze Spuren hinterlassen muss und am eigenen Fahrzeug ja auch etwas zu sehen sein müsste, hätte es auf jeden Fall auffallen müssen. 

Hätte, hätte, Fahrradkette. Oder eher, der Lack ist ab, hätte man vermutet.

Es dauerte wieder eine ganze Weile, als ich von der Staatsanwaltschaft ein Schreiben erhielt. Angespannt öffnete ich den Umschlag und als ich bereits die ersten Zeilen las, fiel mir das Schreiben glatt aus der Hand.

Das Ergebnis hätte ich in meinen schlimmsten Alpträumen nicht erwartet. Ich war geschockt! Wir waren geschockt! 

Wie das Urteil ausging und was sich alles daraus entwickelte, kannst Du nächste Woche an dieser Stelle erfahren. Es lohnt sich, weiterzulesen! 

Teil 2, im Namen des Volkes, hier zu lesen ab 02.06.2023 um 20:21 Uhr!