Wer kann sich noch an seine Jugend erinnern, als in der Schule mal wieder das Zauberwort vom Sportlehrer durch die Turnhalle tönte: „Völkerball“ und er einen Ball nach oben hielt?

Ich kann mich sehr gut daran erinnern, denn in dieser Sportart war ich richtig gut. Nicht nur einmal war ich am Ende „übrig geblieben“. Worum geht es in diesem Spiel? In Kurzform erklärt: zwei Mannschaften werden gebildet, ein Spielfeld und man versucht sich gegenseitig „abzuwerfen“. Mein Lieblingslehrer, ich sage mal einfach Gerd und duze ihn ab jetzt frech, Sport- und Englischlehrer, hat uns gerne Völkerball spielen lassen. Vielleicht war ich darin auch besonders gut, weil ich nur so eine halbe Person war und man mich daher nur schwer treffen konnte.

Dass ich Völkerball gespielt habe, ist Jahrzehnte her. Genauso lange hatte ich meinen Lehrer auch nicht mehr gesehen. Doch das sollte sich vor ein paar Monaten ändern. 

Völkerball erinnert mich an das Leben. Täglich versucht man durch den Alltag zu kommen, sich sicher zu fühlen. Ab und zu muss man sich auch mal zur Seite bewegen, muss ausweichen, muss sich mal unsichtbar machen. Im Laufe des Lebens trifft es dann aber nach und nach immer mehr Deiner „Mitspieler“ und Du kannst froh sein, das Du noch nicht an der Reihe bist. Irgendwann aber lichten sich die Reihen. Die, die es vor Dir getroffen hat, stehen nun auf der anderen Seite und beobachten Dich. Wenn Du Glück hast, Geschick gehört natürlich auch dazu, dauert es, bis die Anzahl derjenigen auf der anderen Seite höher ist, als auf Deiner. Es kann aber auch passieren, dass es Dich schon ganz früh erwischt und Du schon nach kurzer Zeit die Seite wechseln musst. Daher genießt Du die Momente, wenn der Ball an Dir vorbei fliegt. Du spürst aber auch, er kommt dichter und dichter. Anders als in dem Spiel, gibt es im Leben jedoch niemanden, der am Ende übrig bleibt. 

Ich lernte Manfred vor vielen Jahren, nein, Jahrzehnten, kennen. Es muss nach meiner Ausbildung gewesen sein. Manfred war ein Verkäufer durch und durch. Er konnte gut reden, sich sehr gut verkaufen, hatte ausgezeichnete Manieren, war immer zuvorkommend und hatte zu seinen Kunden eine ganz besondere Beziehung. Ich mochte ihn damals schon auf Anhieb, er war immer freundlich und immer gut drauf. So viel positive Energie war absolut auffällig. Wir haben zwar nicht wirklich direkt zusammengearbeitet, aber sind uns immer wieder über den Weg gelaufen. 

Es dauerte genau 19 Jahre, als ich mich versetzen lies und von da an ein Zwei-Mann-Team mit Manfred bildete. Er im Vertrieb als Außendienstmitarbeiter, ich im Innendienst als sein Partner. Wir ergänzten uns par excellence! 

Zusammen waren wir erfolgreich. Keiner war sich für irgendetwas zu schade. So kam es, dass wir auch des öfteren privat etwas zusammen unternahmen. Auch wenn Manfred 17 Jahre älter war als ich, hatte ich bei so mancher Sportart absolut keine Chance. So spielten wir sehr gerne mal Squash. Er konnte den Ball, wenn er wollte, auf eine Briefmarke schlagen. So schickte er mich von rechts nach links. Aber er hat mich dabei nicht vorgeführt oder war arrogant oder überheblich, nein, er war ehrgeizig und einfach gut. Es machte Spaß, ihn zumindest ab und an mal einen Punkt abzujagen. 

Mit Manfred konnte man sich über alles unterhalten. Er hatte eine sehr gute Allgemeinbildung, war an allem interessiert. Wir waren komplett auf einer Wellenlinie, lästerten über dieselben Kollegen, waren meistens einer Meinung. 

Manfred hätte ich nachts um drei Uhr wecken können, um mich aus der Disco abzuholen, er wäre sofort da gewesen, ohne wenn und aber. Man konnte sich immer zu Hundertprozent auf ihn verlassen und ihm vertrauen. Ich kann mich noch genau daran erinnern, als mein Vater uns ganz plötzlich nicht aus Hamburg vom Flughafen abholen konnte. Ich rief ihn an und er war da. Es gab absolut nichts, was er nicht für einen getan hätte. 

Es war meine beste Zeit im Unternehmen, die ich mit ihm als Team verbringen durfte. Jeder Tag hat Spaß gebracht. Wir konnten uns blind aufeinander verlassen.

Als der Tag seines neuen Lebens, seiner mehr als verdienten Rentenzeit gekommen war, war ich tieftraurig. Natürlich habe ich es ihm gegönnt, aber auch meine schönste Zeit war damit Geschichte. 

Natürlich sollte unser Kontakt dadurch nicht einschlafen. Immer wieder trafen wir uns mal zum Frühstück, gingen gemeinsam mit anderen Kollegen essen. Trafen uns auf der Straße und plauderten über die guten alten Zeiten, telefonierten und simsten uns aus unseren Urlaubsorten. 

An dem Tag, als er seine Diagnose erhielt, war ich gefühlt erschrockener und getroffener, als er selber. Er war durch und durch ein positiver Mensch und stellte die Zeit, die es immer gut mit ihm gemeint hatte, in den Vordergrund. Natürlich hätte er es gerne anders gehabt, aber er nahm es an. Er nahm es an und zwar so, dass ich es kaum glauben konnte. Immer noch voller Energie und positiver Gedanken. Und es war nicht gespielt. 

Etwa drei Tage nach der schweren Operation lachte er noch auf der Intensivstation und schwärmte mir am Telefon von den netten Schwestern vor, die ihn versorgten. Als hätte man ihm gerade ein Muttermahl entfernt. Wieder einmal war ich zutiefst beeindruckt. 

Nach kurzer Zeit war er wieder hergestellt, machte alles wie früher, ganz bestimmt noch intensiver. Selbst als die Diagnose ihn erneut erreichte, seine positive Energie lies er sich doch nicht von so einer heimtückischen Krankheit nehmen. Es war bewundernswert. Wie gerne würde ich mir davon eine Scheibe abschneiden, dachte ich oft.

Wir genoss unsere Gespräche und das gemeinsame Frühstück bei meinem Bäcker um die Ecke so oft es ging. Auch wenn mir ganz tief im Inneren bewusst war, das die Zeit begrenzt sein könnte, so dachte ich, er wäre vielleicht doch geheilt.

Das war leider ein Trugschluss. Die letzte Operation sollte auch die Letzte bleiben. Die Nachricht traf mich tief und dominierte meinen Alltag. Doch auch bei meinem Besuch bei ihm zu Hause, trotz dieser schrecklichen Krankheit und den damit verbundenen Einschränkungen, strahlte er Hoffnung und Zuversicht aus. 

Und nach all den Jahren musste ich plötzlich wieder an das Spiel denken: Völkerball. Denn sein Nachbar, der seit Jahrzehnten in seinem Haus wohnte, war mein Lieblingslehrer „Gerd“. Und als ich so mit Manfred, seiner lieben Frau und Gerd im Garten saß, fühlte ich mich in die Zeit zurückversetzt. Viele Jahre konnte Manfred ausweichen, doch nun wurde das Spielfeld immer kleiner. Es waren schon etliche Spieler vor ihm dran, aber eigentlich war das Spiel für ihn viel zu kurz. 

Lieber Manfred, ich hoffe, Du bist nun gut auf der anderen Seite des Spielfeldes angekommen. Bist von den Spielern, die bereits auf Dich gewartet haben, gut in Empfang genommen worden. Ich danke Dir für die schöne Zeit, die ich mit Dir verbringen durfte. Du warst für mich immer ein Vorbild, ein echter Freund. Ich werde Dich sehr vermissen. Du fehlst mir bereits schon jetzt. 

Aber irgendwann werde ich auch die Spielhälfte wechseln. Ich hoffe allerdings, noch nicht so schnell. Aber wenn es soweit ist, freue ich mich, unsere Gespräche wieder fortsetzen zu können.