Wertvolle Erinnerungen

Als ich kürzlich einen alten Schuhkarton in meinen Händen hielt, kam ich wieder einmal etwas ins Grübeln. 

Das lag natürlich an dem Inhalt, der nicht aus einem Paar Schuhen bestand, sondern an dem Berg voller Erinnerungen der darin steckte. Erinnerungen, die auf Karton, viele davon noch in schwarz-weiß, gedruckt. Ich überlegte, wie viele Fotos das wohl sein würden. Einige Hundert sicherlich. 

Ich nahm nach und nach einige in die Hand und schaute sie mir genauer an. Natürlich ist die Qualität nicht mit heutigen Ausdrucken zu vergleichen. Druckt man heute eigentlich regelmäßig überhaupt noch Fotos aus, überlegte ich kurz. Also ich kann mich nicht erinnern, wann ich das zuletzt mal gemacht habe. 

Ich hatte vor Jahren, oder eher gesagt Jahrzehnten, mal einen der ersten kleinen Tintenstrahldrucker gekauft, bei deinen man seine Speicherkarte aus seiner Digitalkamera stecken konnte und die darauf abgesicherten Bilder ausdrucken konnte. Das war toll. Man konnte ihn bequem zu irgendwelchen Feierlichkeiten mitnehmen und den Teilnehmern eine Freude machen. Im Zeitalter des Smartphones eine wohl eher ausgestorbene Freude. 

Aus Gewohnheit wollte ich gerade ein Foto, um die Gesichter besser erkennen zu können, mit Daumen und Zeigefinger wie auf meinem Handy auseinander ziehen, um es zu vergrößern und dichter heranzuholen und musste über mich selber lachen. Man hat sich so daran gewöhnt. 

Wie immer hatte ich in dem Moment nicht so viel Zeit und wühlte nur einmal kurz die Kiste durch und legte die Bilder dann wieder zurück in den Karton. Einige waren in Fototüten, in denen die Bilder nach der Entwicklung immer ausgeliefert wurden, sortiert. Andere lagen unsortiert in gestapelt übereinander. 

Ich sah ein Foto von meiner Einschulung. Hatte ich schöne Farbe im Gesicht. Das muss entweder daran gelegen haben, dass meine Eltern mit mir aus dem Schwarzwald kamen, oder einfach nur daran, dass ich die meiste Zeit draußen mit Freunden gespielt hatte. Denn es gab noch Sommer, in denen gefühlt immer die Sonne schien. In meiner Erinnerung an meine Kindheit gab es tatsächlich immer echte Sommer und echte Winter. Sonne und Schnee waren eine Selbstverständlichkeit. Auf den alten Fotos lässt sich das auch erkennen. Oder trügen mich meine Erinnerungen?

Ein paar Tage später dachte ich erneut an die Kiste. Bilder, auf denen meine Oma zu sehen war. Eine hat in der Nähe gewohnt, wir haben sie oft besucht. Eine auf Hiddensee, die traf ich eher selten. Aber auch andere Verwandte wie Onkels, Tanten, natürlich die Eltern, mein Bruder und eine Menge Freunde aus Kindheitstagen waren auf vielen Fotos. 

Damals wurden Fotos nur zu besonderen Anlässen gemacht. Heute macht man eines von seinem Essen oder vielleicht auch von der Packung seiner Lieblingskekse, damit man sie beim Einkaufen auch findet und nicht die Falschen kauft. 

Auf dem Sofa sitzend, die Beine gemütlich hochgelegt, machte ich in Gedanken eine kurze Zeitreise. Erlebnisse, bei denen ich zwar dabei war, aber von denen ich keine Erinnerungen habe, weil sie zu lange her waren oder ich noch zu klein war, zogen an mir vorbei. Das waren diese, von denen meine Eltern mir im Laufe meines Lebens immer mal wieder erzählt haben. 

Als ich geboren wurde, wie ich als Baby geschrien habe, meine ersten Gehversuche. Auch davon gab es einige Fotos. Es gab sogar Aufnahmen von meinem Geschrei auf ein paar Tonbändern. Die schlummern irgendwo in einer Kiste auf dem Dachboden. Zusammen mit einer Menge Spielzeug aus meiner Kindheit. 

Schlümpfe und Puppen die Jungs früher zum Spielen benutzt haben. Ich erinnere mich noch ganz genau an diese Actionfiguren. Big Jim, Big Jeff, Big Josh und Dr. Stahl mit seiner silbernen Hand. Man konnte auf den Rücken drücken und die Figur bewegte ihren Arm nach vorne. Dazu gab es einen coolen Campingwagen, ein Geländewagen mit Fangnetz und einen Hubschrauber. Ich hatte alles. 

Und nie werde ich die Geschichte vergessen, als ich vor Weihnachten mit meinen Eltern in eines meiner Lieblingsspielwarengeschäfte ging, um mir ein Geschenk aussuchen zu dürfen. Meine Wahl fiel auf den Geländewagen. Ich sehe gerade sogar noch den Originalkarton vor mir. Dieser Wagen hatte wie gesagt vorne ein Fangnetz und es war ein Nashorn aus Plastik dabei. Ich war so aufgeregt und konnte Weihnachten gar nicht mehr abwarten. Ich drängelte so, wollte zumindest einmal vorher schon mit dem Wagen spielen. Da ich nicht aufhörte, gaben mir meine Eltern das Nashorn schon vorab. Verrückt, als wäre das alles gestern gewesen. Was für schöne Erinnerungen. 

Geschichten über die Zeit mit den Eltern, den Großeltern, Familienfeste, gemeinsame Rituale, Lachen und kleine Missgeschicke, gemeinsame Mahlzeiten, einfaches Zusammensein. Reisen und Ausflüge, Lebensweisheiten und Ratschläge, Feierlichkeiten. Umarmungen und Berührungen, Briefe und Notizen, gemeinsam geteilte Träume und Pläne. Gegenstände mit emotionalem Wert, Musik und Düfte, all diese Dinge haben unzählige Erinnerungen hinterlassen. 

Diese Erinnerungen sind unbezahlbar, lassen sich nicht wiederholen. Sie machen einen Menschen aus, machen ihn zu dem, was er ist. Sie können von unschätzbarem Wert sein. 

Wenn ich sie an meinem geistigen Auge vorbeiziehen lasse, machen sie mich glücklich, schenken mir oft wohlige Wärme. Viele lassen mich schmunzeln, sogar manchmal laut lachen. Sie geben mir Kraft, schenken mir Energie und begleiten mich durch den Alltag oder sogar durch mein Leben. Viele machen mich aber auch traurig, berühren mich, machen mir bewusst, dass alles endlich ist. 

Doch der traurigste Gedanke bei all diesen wertvollen Erinnerungen ist der, dass ich sie mit immer weniger Menschen teilen kann. Mit immer weniger, die daran teilgenommen haben, die mitfühlen können und mit denen ich mich darüber austauschen kann. 

Das nennt man Leben. Um so wichtiger ist es, Erinnerungen am Leben zu halten und sie gemeinsam mit diesen Menschen immer mal wieder hervorholen, solange das möglich ist.