Es ist schon wieder eine Weile her, als ich das letzte Mal so richtig „aus meiner persönlichen und privaten Komfortzone“ gerissen wurde. Zuvor eingehüllt in meiner Blase. Jeder Mensch scheint sich in einer Art Schutzblase sicher zu fühlen. Was man von Anderen hört, was man im Fernsehen sieht, egal, wo auf der Welt, es wird einem schon nicht selber passieren, denkt man oder besser gesagt, redet man sich ein. Das ist vielleicht auch gut so.

Als ich zum Telefonhörer griff, stellte sich der Anrufer als Kollege meiner Frau vor. Er beruhigte mich als Erstes und versicherte, ich bräuchte mich nicht aufzuregen. Nett gemeint, aber mein Puls schoss sofort in die Höhe. Er rief aus dem Krankenhaus an, es gab einen kleinen Verkehrsunfall, bei dem Becca beteiligt war. Ein unachtsamer Autofahrer hat sie beim Rechtsabbiegen übersehen und angefahren. „Zum Glück“ ist sie sozusagen seitlich erwischt worden und nicht unter das Auto geraten. Es ginge ihr soweit gut. Aber sie wird gerade eingehend untersucht, sagte mir der Kollege. 

Das Ganze geschah auf einer Dienstreise. Auf der Fahrt ins Krankenhaus betete ich, dass sich tatsächlich herausstellt, dass es kein schwerwiegender Unfall sein möge. So war es dann glücklicherweise auch. Sie hatte einiges „abbekommen“, aber es hätte viel schlimmer ausgehen können. 

Es war nicht das erste Mal, dass mich so eine Hiobsbotschaft erreichte. Und es war auch nicht die Schlimmste dieser Art.  

Die meisten Menschen können zum Glück immer positiv in die Zukunft schauen. Alles Andere ist auch auf Dauer unerträglich und macht den Körper und die Seele krank.

Am 24.02.2022 wurde fast die ganze Welt aus ihrer Blase gerissen. Etwas, was sich seit langer Zeit angekündigt hatte, ist tatsächlich eingetreten. Krieg in Europa, direkt vor unserer Haustür. 

Die Welt ist nicht friedlich. Auf der Welt gibt es anscheinend immer irgendwo Krieg. Ob in Afrika oder Syrien, irgendwo sterben täglich Menschen. Nun ist der Krieg näher gekommen. 

Was wir vorgestern noch nebenbei in den Nachrichten mit einem Auge zur Kenntnis genommen haben, es gab ja bereits deutliche Anzeichen für eine Eskalation, ist am 24.2.22 Realität geworden. 

Was macht uns alle plötzlich so betroffen? Sterbende Menschen sehen wir jeden Tag im Fernsehen. Ob sie verhungern, von Andersgläubigen massakriert werden, ob sie mitten in Europa am helllichten Tag mit einer Machete getötet oder mit einem LKW auf dem Weihnachtsmarkt überfahren werden. Selbst in einem Gebetshaus ist man nicht mehr sicher, wie die Vergangenheit gezeigt hat. Also warum sind wir jetzt alle so betroffen? Die Frage hört sich zynisch an? Das ist sie auch!

Jetzt haben wir den Tod und das Leid in unmittelbarer Nähe. Wir sehen, wie ein unabhängiger Staat angegriffen wird. Von einem Land, das eigentlich gar nicht so viel dafür kann. Denn nur der Präsident hat sich vorgenommen, die Zeit auf seiner Landkarte wieder zurückzudrehen. Einfach so, wie es ihm beliebt. Das Volk hat es nicht gewollt, obwohl angeblich Stand gestern immer noch etwa 70 Prozent der Bevölkerung hinter ihrem Präsidenten stehen. Hätte man das Vorhaben nicht erahnen können? Hat er es nicht vorausgesagt, wenn auch zuletzt immer wieder dementiert?

In den letzten Wochen waren doch wirklich fast alle ranghohen Politiker bei ihm, mussten ihm an einem 20 Meter langen Tisch gegenübersitzen und immer wieder auf ihn einreden. Immer wieder beteuerte dieser Mann, es besteht kein Grund zur Sorge. Dabei hatte er seine Angriffspläne vielleicht sogar in seinem Jackett jedes Mal dabei und hat sich einen gegrinst. Dieser Mann kann einem Angst machen. 

Wenn man jetzt die Nachrichten verfolgt – obwohl man eigentlich eher von ihnen verfolgt wird – muss man leider feststellen, dass dieses Szenario wohl so kommen musste. Was meiner Meinung nach mit am schlimmsten ist, ist die Tatsache, dass dieser Präsident ja nicht das erste Mal so handelt. Vielleicht das erste Mal so extrem, aber er ist ja auch schon mehrfach so vorgegangen und hat Leid und Tod über andere Menschen gebracht. 

Da sind dann aber die Proteste schnell wieder verklungen und die meisten Politiker, inklusive unseren, haben ihm kurze Zeit später wieder die Hand geschüttelt und Vereinbarungen und Geschäfte mit ihm abgeschlossen. Wie kann das sein? Wollen wir einige Probleme einfach nicht sehen? Ist uns der Wohlstand einfach wichtiger? Haben wir Angst, die Nächsten auf seiner Abschussliste zu sein? 

Ist doch klar, dass dieser Präsident davon ausgeht, die Proteste werden sich schon wieder legen. Dann gehört auch dieses Land wieder ihm und nach einer Weile spricht kein Mensch mehr darüber. Doch dieses Mal hat er sich gewaltig verkalkuliert. Die Welt scheint das erste Mal, bis auf sehr wenige Ausnahmen, zusammengerückt zu sein. 

Nun ist die Ukraine mit etwa 44 Millionen Einwohnern kein kleines Land. Wie müssen sich die Menschen dort fühlen? Wollen gerade zum Sport oder zum Einkaufen gehen und da gehen plötzlich die Sirenen an? Täglich sterben Menschen dort, sind auf der Flucht, haben nichts dabei, außer ihre Kinder und was sie tragen können. Die Männer müssen sich bei ihren Familien verabschieden, wenn sie es geschafft haben, ihre Lieben in Sicherheit gebracht zu haben. Was für ein Schmerz. Und alles völlig überflüssig.

Kann man der russischen Bevölkerung etwas vorwerfen? Hätten sie früher auf die Straße gehen, sich organisieren und zusammentun sollen? Ein Präsident, der sich selber auf Lebenszeit wählt und schaltet und waltet, wie er will, für uns unvorstellbar. Aber was passiert mit den Menschen, wenn sie gegen angehen. Sie kommen ins Gefängnis oder verschwinden plötzlich. Also haben wir das Recht, ihnen etwas vorzuwerfen? Wir, die dagegen in einem Schlaraffenland wohnen. Wo jeder auf die Straße gehen und seine freie Meinung so laut er möchte in die Gegend rufen darf. 

Fast jeder kennt die Klitschkos. Wie bizarr ist der Anblick, den Bürgermeister mit Schutzweste und Helm zu sehen? Wie er plötzlich um sein und andere Leben kämpfen muss. Es ist unfassbar und es macht unfassbar wütend und traurig zugleich.

Aber neben Traurigkeit und Wut begleitet mich nun täglich noch etwas Anderes. Angst! Angst, dass sich dieser Krieg noch viel weiter entwickeln kann. 

Wer hätte vor gar nicht allzu langer Zeit gedacht, dass tatsächlich mal einer dieser Katastrophenfilme, ich habe da so einige im Kopf, wahr werden würde. Einer, bei dem sich ein Virus von einem Tier auf den Menschen überträgt und sich dann auf der ganzen Welt ausbreitet? 

1983 kam ein Film mit dem Titel „The Day After“ in die Kinos. Ich kann mich noch wie heute daran erinnern. Es kam zum nuklearen Krieg zwischen den USA und der Sowjetunion. Und er hat gezeigt, was passieren würde, nachdem die Erde kontaminiert wurde. Ich konnte ewig danach nicht schlafen. Dass dieser Film tatsächlich einmal wahr werden könnte, das hat man im Unterbewusstsein immer geahnt. Dass aber von heute auf morgen über einen dritten, atomaren Weltkrieg, als reale Bedrohung gesprochen wird, das lässt mir das Blut in den Adern gefrieren. Es macht mir Angst und diese Angst begleitet mich durch den Tag. 

Ich glaube, es ist wichtig, sich zu informieren. Aber ständig die Nachrichten von morgens bis abends zu verfolgen, ist falsch und macht einem noch mehr Angst und krank. Wenn wir der Ukraine helfen wollen, dann sollten wir etwas spenden, wo möglich mit anpacken und hoffen, oder auch beten, dass dieser sinnlose Krieg schnell beendet werden kann und sich nicht weiter ausbreitet. 

Ob wir noch einmal so unbesorgt wie vor Corona und vor dem 24.02.2022 leben können, das weiß niemand. Wir können es nur hoffen und zusammenhalten. 

Da wir weder funktionstüchtige Sirenen in Deutschland besitzen, die uns im Worst Case warnen können, um in die nicht vorhandenen Bunker zu flüchten und erst recht keine Verteidigung haben, wäre die schreckliche Alternative vermutlich schnell überstanden. Hoffen wir, dass es nie so weit kommt. 

In Gedanken können wir in diesen Tagen nur bei den Ukrainern sein.