Hätte ich auf diesem Foto schon geahnt, dass ich sehr viele Jahrzehnte später einmal diesen Blogbeitrag schreiben würde, hätte ich nicht eine so schöne Kindheit verbracht. Denn auch, wenn meine Kindheit nicht frei von Sorgen war, so war sie trotzdem wunderschön. So, wie es  sich jedes Kind wünscht. Liebevoll und behütet von den Eltern.

Es gibt Tage im Leben, die spürt man direkt näher kommen. Es sind wiederkehrende Tage. Man braucht eigentlich gar nicht auf den Kalender zu schauen, sie sind einfach omnipräsent, ob man will, oder nicht.

Meinen Geburtstag habe ich auch noch nie vergessen, was wohl auch eher komisch wäre. Klar, ich freue mich dann immer über diesen Tag. Aber er ist mir nicht mehr so wichtig, wie er es mir noch als Kind war. Das geht sicherlich den Meisten so. 

Aber diesen einen Tag, der sich diese Woche tatsächlich bereits zum unfassbar zwölften Mal jährt, der macht sich bereits einige Zeit vorher bemerkbar. Er schaut mir über die Schulter, als wäre es ein Schatten. Er kommt aus allen Richtungen, wie ein kalter Schauer. Er ist am Tag und erst recht wenn es dunkel wird, spürbar. Er taucht auf, wenn ich gerade lache. Besonders beliebt scheint ihm die Nacht zu sein. Er drängt sich in meine Träume, macht sich dort breit und grinst mich an. Einen solchen Tag kann man nicht abschütteln, nicht vor ihm fliehen und erst recht nicht aus dem Gedächtnis verbannen. Er scheint unauslöschbar zu sein. 

Mein Vater war zeit seines Lebens ein guter Mensch. Als Sternzeichen Waage wollte er es am liebsten immer allen recht machen. Er hasste Streit, musste immer wieder schnell die Wogen glätten, wenn es doch einmal ungemütlich wurde. 

Er hat fast sein Leben lang gearbeitet. Nach einer Tischlerlehre bei der damaligen MAK, heutzutage kennt das wahrscheinlich kaum noch jemand, ist er dann zur Post gewechselt. 

Dort hat er über 45 Jahre gearbeitet. Als Postzusteller hatte man früher noch richtige Verantwortung. Jeden Tag in Uniform, mit Krawatte, machte er sich bereits sehr früh am Tag auf den Weg zur Post. Damals hatte er oft sehr viel Bargeld bei sich. Das war für die Sozialempfänger, die ihre Sozialhilfe meistens schon ungeduldig erwarteten. Und er hatte auch Wertumschläge und Päckchen dabei. Die waren meistens für die Juweliere auf seiner Tour, mussten immer „am Mann“ getragen werden, waren wertvoll. Und er musste in fast jedem Haus zu Fuß ganz nach oben. Hausbriefkästen unten gab es kaum. Er liebte seine Arbeit, und das bei Wind und Wetter. 

Ich kann mich noch sehr gut daran erinnern, als mal ein richtig eisiger Winter herrschte und die Wettervorhersage sozusagen einen Notstand ausrief. Glätte sollte die ganze Stadt heimsuchen, mit Sturm und Eisregen. Die Chefetage rief ihre Mitarbeiter einen Tag vorher auf, zu Hause zu bleiben. Es wäre zu gefährlich, an diesem Tag herauszugehen. Das galt allerdings nur für alle höheren Beamten, die es sich in ihren Büros hätten gemütlich machen können. Die Postzusteller, die eigentlichen Betroffenen, „vergaß“ man anscheinend. Mein Vater trug seine Post also trotzdem aus.

Er ging auch schon mal mit gebrochenem Knöchel zur Arbeit, versuchte es zumindest. Erst als es gar nicht mehr ging, kam er zurück und bekam daraufhin die Diagnose vom Arzt. Er war sehr diszipliniert und hatte so gut wie keine Fehltage. 

Er liebte die Gespräche mit seinen Kunden. Nahm sich immer Zeit für ein Schwätzchen und half, wo er konnte. Seine Kunden mochten ihn sehr. Natürlich gab es ab und an auch mal einen Schnaps. Eine ältere Dame holte einmal aus ihrer Anrichte ein Glas und schenkte sich und ihm einen edlen Tropfen ein. Als mein Vater diesen trank, spürte er in seinem Mund kleine, scharfe Gegenstände. Hatte er nicht mitbekommen, dass die Dame Eis ins Glas machte, dachte er verwundert. Ausspucken ging eigentlich gar nicht, wozu er sich dann doch entschloss. Beide waren erschrocken, als er plötzlich eine Menge Heftzwecken in der Hand hielt. Die Dame hatte sie übersehen und es war ihr natürlich mehr als unangenehm. Gut, dass er sich dazu überwunden hatte, den Inhalt nicht runterzuschlucken.

Mein Vater war auch seit meiner frühesten Jugend mein Trainer. Es wurde jemand gebraucht und er konnte nicht nein sagen. Es war eine sehr schöne Zeit. Auch als ich mit 17 Jahren keine Lust mehr auf Fußball hatte, hielt er noch ein paar Jahre durch. 

Unser Lieblingsreiseziel war damals der Schwarzwald. Weit mehr als zehnmal waren wir gemeinsam dort, immer im selben Hotel. Ich denke immer wieder sehr gerne daran zurück. 

Mein Vater war auch mein bester Freund. Ich konnte immer über alles mit ihm reden, Männergespräche halt. 

Eigentlich gab es nur ein Thema, bei dem wir uns so gar nicht einig wurden und uns regelmäßig in die Haare bekamen. Nicht schlimm, aber es gab immer wieder Diskussionen. Er war leidenschaftlicher Fan vom FC Bayern. Egal was war, er stand zu seinem Verein. Ich konnte und kann sie auch immer noch nicht leiden. Aber man kann ja auch nicht immer der gleichen Meinung sein. 

Meine Eltern waren immer ein Herz und eine Seele. Und das über ein halbes Jahrhundert hinaus. So erinnert man sich gerne an die guten alten Zeiten zurück. 

Das erste Jahr ist immer das Schwerste, sagten uns damals eine Menge Freunde und Bekannte. Und das war auch so. Aber wenn dieser eine Tag näher rückt, ist die Last, die schweren Gedanken, die nicht nur aufs Gemüt schlagen, sondern einem fast sämtliche Energie rauben, wieder genauso schwer zu ertragen. Ich hätte nie gedacht, dass Traurigkeit körperlich so anstrengend sein kann. Man fühlt sich, als hätte man einen Marathon gelaufen und sämtliche Knochen plötzlich schwerer geworden wären. Sicherlich wissen viele, was ich meine und kennen diesen Schmerz nur allzu gut. 

Darum verbringen wir diesen Tag auch immer im aller engsten Kreis. Und natürlich wird an diesem Abend meistens bayrisch gekocht, so, wie es ihm gefallen hätte. Und an manchen dieser Tag spüre ich, dass er bei mir ist und versucht, mir etwas von dieser Last abzunehmen. Zum Glück habe ich seinen Anblick nach wie vor ganz genau vor meinem inneren Auge. Und das wird sich ganz sicher auch nicht ändern. 

Lieber Vati, an diesem Tag vermissen wir Dich immer mit schwerem Herzen. An allen anderen 364 Tagen vermissen wir Dich auch. Aber da überwiegen die schönen Momente. Aber keine Angst, auch im nächsten und übernächsten Jahr werden wir zusammen auch diesen Tag überstehen.