Der letzte Besuch

Der Dummkopf beschäftigt sich mit der Vergangenheit, der Narr mit der Zukunft, der Weise aber mit der Gegenwart. Über dieses Zitat des französischen Schriftstellers Nicolas de Chamfort muss ich sehr oft nachdenken.

„Ihr müsst unbedingt mal wieder vorbeikommen, wir müssen uns mal wieder treffen“! Diesen Satz hast Du ganz sicher auch schon öfter gesagt oder gehört. 

Man trifft einen Freund, einen Bekannten, vielleicht im Vorbeigehen und freut sich über ein nettes Gespräch. Natürlich ist die Zeit mal wieder knapp, man ist in Gedanken schon wieder beim nächsten Termin, der nächsten Verabredung und muss gleich wieder weiter. Kurze Zeit später ärgert man sich dann doch, dass die eine oder andere Frage nicht gestellt wurde. 

Familienfeier. Man redet mit dem einen und der anderen, hat aber auch bei der Gelegenheit nur begrenzt Zeit. Und auch hier bleibt so manches Gespräch ungeführt

Alles muss immer schnell gehen, wir sind alle wie Hamster in einem Laufrad, als wären wir auf der Flucht.

Wir haben meistens genug zu essen im Kühlschrank, wir haben ein paar Euro im Portemonnaie oder vielleicht auch irgendwo deponiert und gespart, unser Kleiderschrank ist prall gefüllt, wir haben eigentlich von vielem genug. Nur eines haben wir selten, Zeit.

Allerdings verbringen wir sehr viel Zeit damit, tatsächlich in die Zukunft zu schauen. Was wird kommen, was wird sich verändern, wie werde ich damit klarkommen, wie soll ich das alles schaffen? Gerade in diesen Zeiten haben wir ein Bündel an Herausforderungen, kleine und große Dinge, die uns belasten. Die Welt hat, genau wie wir, auch keine Zeit. Verändert sich im Minutentakt. Was heute noch gut ist, wird vielleicht morgen schon verpönt. Was uns vor einigen Jahren nicht betroffen hat und weit weg war, ist jetzt zu uns gekommen und passiert direkt vor unserer Haustür. Wir nehmen uns immer mehr Zeit, in die Zukunft zu schauen und uns Sorgen zu machen.

Wenn wir dann überfordert sind, schauen wir einfach eine Weile zurück. Meistens denken wir dann ausschließlich an die guten Zeiten. Wie schön war es, als… 

Es gibt unzählige Momente, die einzigartig waren. Es gibt so viele Ereignisse, an die man mit einem breiten Grinsen so gerne zurückdenkt. Aber die Vergangenheit ist nicht mehr greifbar, wir können sie nicht mehr verändern. Und auf die Zukunft können wir meistens nur minimal einwirken, vieles liegt nicht in unserer Hand oder unserer Macht. Das Einzige, was wir tatsächlich beeinflussen können, ist die Gegenwart. Vielleicht nehmen wir uns deshalb jeden Tag mehr vor, als für uns gut ist. 

Meine eigene Familie ist, was die Anzahl der Mitglieder betrifft, recht überschaubar. Und die, die dazu gehören, wohnen nicht um die Ecke, man hört also eher selten etwas voneinander. Zum Glück habe ich meine Mama in direkter Nähe. 

Meine angeheiratete Familie ist dazu im Gegensatz recht umfangreich. Alles, was das Herz begehrt: Onkel, Tanten, Cousinen, Cousins und deren Nachwuchs. Wenn also eine Feierlichkeit ansteht, ist das Haus immer voll. Und so gibt es bei diesen Gelegenheiten auch immer das eine und andere sehr liebe und herzliche, manchmal auch sehr intensive Gespräch. 

Mit dem einen kann man sich stundenlang über die neuesten Apple Produkte austauschen, mit dem anderen über die Erlebnisse des letzten Urlaubes, mit ihr über den letzten Gesangsauftritt, mit ihm über Eisbaden und der nächste schwärmt von seinen Thermomix. Es ist immer sehr ungezwungen, jeder kommt und geht, wann er oder sie möchte. Natürlich hat man auch nicht immer Zeit, an jedem Treffen teilzunehmen. 

Beim letzten Treffen hatten wir uns, wieder einmal, muss man schon sagen, mit Beccas Onkel und Tante verabredet. Schon einige Male hatten wir geplant, sie zu besuchen. Aber irgendwie hatte es bisher noch nicht geklappt. Dieses Mal sollte es aber anders werden und wir vereinbarten kurzfristig einen Termin. 

Die paar Kilometer, die sie von uns entfernt wohnen, können wir auch zu Fuß gehen, beschlossen wir. Außerdem können wir dann beide das eine oder andere Glas Wein oder Bier trinken. Wer zu Fuß geht, kann auch seinen Führerschein nicht verlieren. 

Pünktlich trafen wir ein und wurden, wie nicht anders erwartet, herzlich begrüßt. Auf uns wartete ein ganz besonderer Abend, mit frisch zubereiteten Leckereien und angenehmen Gesprächen über Gott und die Welt. Jeder kam zu Wort, jeder konnte erzählen, jeder war interessiert, fragte nach, genau, wie man sich einen solchen Abend wünscht. Es hat mir große Freude bereitet, mit dem Gastgeber zusammen das Eis herzustellen. Wobei meine Aufgabe eher darin bestand, aufzupassen, dass alle Zutaten richtig eingesetzt wurden. 

Wir vereinbarten, das bald, dann bei uns zu Hause, zu wiederholen, als wir uns verabschiedeten.

Wir ahnten nicht, dass wir in dieser Form nie wieder zusammenkommen würden. Niemals hätten wir gedacht, dass es unser letzter Besuch bei den Beiden sein würde.

Gerade eben noch unser Gastgeber, kurze Zeit später brachte ihn der Notarzt bereits ins Krankenhaus. Bangen und hoffen, hieß es eine Weile für viele Betroffenen.

 

Die Meisten sind sicherlich schon einmal bei einer Trauerfeier gewesen. Für mich gibt es nichts Schlimmeres. Alles wirkt so unwirklich, alles ist nicht greifbar. Trauer verursacht nicht nur Schmerzen in unserem Herzen und in unserer Seele, Trauer entzieht uns auch jede Energie. Als wäre man über Nacht um Jahre gealtert. 

Eine Trauerfeier, wobei das Wort „Feier“ eigentlich mehr als unangebracht ist, außer vielleicht in Lateinamerika, ist ein sehr schwerer Gang. In erster Linie natürlich für die direkt Betroffenen. Diese Trauerfeier war etwas Besonderes. Es war, auch wenn es sich merkwürdig anhört, die perfekte Trauerfeier. Der Pastor, der den Verstorbenen kannte und wie über einen alten Freund sprach, die Auswahl der Lieder, die perfekte Mischung aus Gesang und Musik von der CD, die vielen Menschen, die die Kirche nahezu komplett mit ihrer Anteilnahme füllten. 

Dass dann noch zwei seiner zutiefst traurigen Kinder den Mut und die Kraft hatten, einen Text vorzulesen und sogar ein Lied zu singen, hat mich nicht nur dermaßen berührt, es hat einen unbeschreiblichen Respekt in mir ausgelöst und schwer beeindruckt. 

Genauso hätte sich ihr Vater diesen Tag ganz sicher gewünscht.

Der letzte Besuch. Es ist unfassbar.

Der Dummkopf beschäftigt sich mit der Vergangenheit, der Narr mit der Zukunft, der Weise aber mit der Gegenwart.

Lieber Sven, es macht mich traurig, dass wir uns nicht öfter ausgetauscht haben. Wir hatten uns schon sehr auf Euren Gegenbesuch gefreut. Meine Gedanken sind bei Deinen Lieben, meine Gedanken sind bei Dir!