Verschiedene Welten
Eigentlich steht uns Menschen zurzeit nur eine Welt zur Verfügung. Die der Erde. Vielleicht gibt es ja noch eine Menge mehr und wir wissen es nur noch nicht. Wer weiß, was in den nächsten Jahrzehnten für Möglichkeiten bereitstehen werden?
Aber auch, wenn wir alle gemeinsam, ob wir es wollen oder nicht, auf einer Erde zusammenleben, leben wir nicht alle in derselben Welt.
Unsere eigene Welt, in der wir leben, die kennen wir. Aber es gibt fast unzählige andere Welten, die wir zum allergrößten Teil nie kennenlernen werden. Und die, die wir im Laufe unseres Lebens betreten, betreten wir nur minimal.
Meine Welt teile ich mit ein paar Personen. Die, die mir lieb und teuer sind, haben meine schon teilweise sehr ausgibt kennengelernt und lernen sie im Laufe der Zeit auch wahrscheinlich immer tiefer kennen. Andere bekommen nur einen Bruchteil davon zu sehen und wieder andere meinen, bereits einen großen Einblick erhascht zu haben, verwechseln es aber vielleicht auch mit ihrer eigenen oder mit ihrer Fantasie.
Auch Vorurteile können den Eindruck suggerieren, Kenntnisse anderer Welten bekommen zu haben. Oftmals ist das aber ein Trugschluss.
Spätestens jetzt fragst Du Dich vielleicht, wovon redet der denn?
Ein Beispiel: Zu wie viel Prozent kennst Du die Welt Deines Partners oder Deiner Partnerin? Er oder sie gewähren Dir einen großen Einblick und ein Teil ihrer Welt ist auch Deine und umgekehrt. Ihr verbringt viel Zeit miteinander, im besten Fall vielleicht so viel, wie möglich. Aber viele Menschen in Deinem Leben, viele Momente, Orte, Gedanken, Gerüche, Gefühle, werden sie nie kennenlernen. Das gilt natürlich auch in beide Richtungen.
Auch die Familie hat unendliche Welten, die Du niemals kennenlernen willst, vielleicht, oder sogar ganz bestimmt, auch gar nicht kennenlernen möchtest. Jeder ist mit seiner eigenen schon schwer beschäftigt, da würden einem andere vielleicht komplett überfordern.
Immer weniger wird es dann mit Freunden, Kollegen, Nachbarn, Bekannten und Menschen, die wir zufällig treffen.
Ich denke oft darüber nach, dass ich die Welt meines momentanen Gegenübers wahrscheinlich niemals kennenlernen werde. Und wenn meine gerade fantastisch ist, ist die der Person, die gerade auf der Straße an Dir vorbeigegangen ist, in dem Moment eventuell gar nicht gut. Vielleicht sogar so schlecht, dass sie es nicht mehr aushält und sie verlassen möchte. Freiwillig, oder in der Situation, eher freiwillig unfreiwillig.
Wenn ich morgens beim Bäcker bin und der Mitarbeiter mich freundlich anlacht und meine Einkaufswünsche erfüllt, weiß ich nicht, wo er wohnt, ob er Familie hat, ob sein Geld am Ende des Monats für ihn reicht. Auch wenn wir täglich einen kleinen Plausch halten, ich weiß eigentlich rein gar nichts von ihm.
Wenn ich beim Herausgehen aus dem Laden dann eine Kollegin treffe, die sich einen Kaffee holt, bin ich ebenfalls überfragt. Dieselben Fragen, keine Antworten.
Der Obdachlose, der mich nach Kleingeld fragt, wo mag er abends schlafen? Ob er schon lange in dieser Situation ist oder erst seit einer Weile, ich weiß es nicht. Wie ist er da hineingeraten?
Ich schaue aus unserem gemütlichen Wohnzimmer zum Haus gegenüber. Es zieht sich jemand an, so viel kann ich erkennen. Aber keine Details, dafür ist er oder sie viel zu weit weg. Geht die Person jetzt zur Arbeit oder besucht vielleicht einen Angehörigen im Krankenhaus?
Als ich vor einer Weile in meiner Pause meinen kleinen Spaziergang machte, kam mir ein junges Pärchen entgegen. Sie hatte neues Leben in ihrem Bauch, was deutlich zu erkennen war. Er trug eine Tasche, die so aussah, als würde sie das Nötigste für einen kurzen Krankenhausaufenthalt beherbergen. Beide lächelten sich an und machten dann ein Selfie von sich. War das der Moment, den sie in den nächsten Jahren oder Jahrzehnten ihrem Kind immer mal wieder zeigen würden? Ihre Welt wird sich vergrößern. Ein Kind, neue Freunde, Lehrer, Ärzte, vielleicht ein Fußballtrainer oder eine Reitlehrerin, Hochzeitsgäste, Enkel. Ich sah kurz einen Teil der vielen Menschen vor mir. Menschen, die es vielleicht noch gar nicht gibt.
Wenn wir in den Urlaub fahren, denke ich beim Betreten des Flugzeuges, wenn ich beim Vorbeigehen einen kurzen Blick ins Cockpit werfen kann und den Piloten mustere, wie mag seine Welt ausschauen? Ist er schon oft geflogen, wie ist er gesundheitlich drauf, hatte er vielleicht gestern Geburtstag, gab es vielleicht Alkohol? Natürlich versuche ich immer das Gute im Menschen zu sehen.
Die vielen Menschen im Flugzeug, die für einen Bruchteil meine Welt kreuzen, die vielen Gedanken, Vorfreuden, Erwartungen, Ängste, Hoffnungen, sie streifen mein Universum wie ein Sandkorn. Auf meiner Lebenslinie gar nicht messbar.
Im Urlaub machen wir gerne Roadtrips, fahren oft viele Tausend Kilometer durch ganz unterschiedliche Landschaften, Städte und Orte. Im Vorbeifahren nehme ich dann manchmal aus dem Augenwinkel Menschen, Häuser und andere Autos wahr, wie sie an mir vorbeiziehen. Keine einzige ihrer Geschichten, die es zu erzählen gebe, werde ich jemals kennenlernen.
Es gibt Tage, da macht mich dieser Gedanke ein wenig traurig. Es ist nicht so, dass meine Welt nicht ausgefüllt wäre oder ich nicht genug andere um mich herum habe. Aber es gibt über acht Milliarden Menschen auf diesem Planeten, die in über acht Milliarden verschiedenen Welten leben, die für mich komplett unerforscht bleiben werden.
Jeder versucht, seine ganz eigene Welt so angenehm herzurichten und zu gestalten, wie es nur möglich ist. Wir versuchen, uns darin wohl und sicher zu fühlen. Wir versuchen auch, andere kennenzulernen und diese genau wie unsere eigene immer wieder neu zu entdecken.
Wir können versuchen, unsere und die der anderen positiv zu beeinflussen und mitzugestalten. Aber selbst, wenn wir es wollen würden, wir werden, gemessen an der Zeit, nur einen Wimpernschlag der über acht Milliarden verschiedenen Welten jemals in unserem ganzen Leben kennenlernen.