Knopf im Ohr

Es ist schon einige Jahre her, als die Oma meiner Frau uns von ihrem Erlebnis berichtete. 

Sie war in einer Bäckerei um die Ecke und gönnte sich ein Stück Kuchen und einen Kaffee dazu, als ihr schweifender Blick auf einem jungen Mann haften blieb. Schöne Haare, gut gekleidet, gut aussehend, saß er ein paar Tische weiter und trank ebenfalls, genau wie sie, alleine einen Kaffee. Er war einfach ein netter Anblick, schilderte sie uns, doch nach einer Weile merkte sie, dass er, mehr oder weniger Originalton der älteren Dame, „nicht alle beisammen hatte„! 

Er redete mit sich selber und das nicht zu knapp. Ach wie traurig, dachte sie, so gut aussehend, und dann das. Bis sie dann nach einer Weile bemerkte, dass er einen Knopf im Ohr hatte und nicht mit sich selber sprach, sondern mit einer anderen Person telefonierte. Als sie das feststellte, war sie wieder beruhigt. 

Über ihre Schilderung hatten wir uns damals köstlich amüsiert. Heute, einige Jahre später, mag man das ja eigentlich gar nicht mehr erzählen. Selbstverständlich wäre es ja auch nicht schlimm, wenn er mit sich selber spricht. Deshalb darf man ihn natürlich nicht diskriminieren. Wie auch immer, ich finde die Geschichte trotzdem amüsant. 

Wenn ich es morgens einrichten kann, versuche ich mich in meiner Frühstückspause etwas zu bewegen. Lange Zeit habe ich dafür nicht, aber für eine kleine Runde ums Haus reicht die Zeit schon. Ich stoppe dann meine Uhr, um meine Schritte zu tracken. Bewegung scheint der Schlüssel zu einem langen Leben zu sein, unter anderem natürlich. 

Wenn ich dann die ersten Meter gegangen bin, höre ich hinter mir oft Stimmen, die näher kommen. Scheint sich jemand zu unterhalten. Nun hasse ich es, wenn jemand direkt hinter mir geht und gehe dann manchmal schneller, um den Abstand zu vergrößern oder langsamer, um mich überholen zu lassen. In den meisten Fällen handelt es sich dann um eine einzelne Person, die, wie der gut aussehende junge Mann am Tisch der Oma gegenüber, mit einem Knopf im Ohr telefoniert.

Ich muss dann oft an die Geschichte denken, sehe mich dann um, und stelle fest, weit mehr als die Hälfte derjenigen, die ich bei meinem Frühstücksspaziergang treffe, haben ebenfalls einen Knopf im Ohr und telefonieren oder hören natürlich auch Musik. 

Kaum jemand spricht auf der Straße mit einem anderen, alle nur noch mit dem kleinen Mann oder der kleinen Frau im Ohr. Ein Smartphone ans Ohr gehalten wird anscheinend nur noch in Ausnahmefällen. Dann lieber den Lautsprecher einschalten und das ganze Umfeld mit dem Gespräch belästigen. Kein Wunder also, wenn immer mehr das nicht wollen und stattdessen Musik im Ohr haben. 

Ob Auto- oder Fahrradfahrer, sehr viele tragen Kopfhörer. Bis vor kurzem wusste ich gar nicht, dass das, während man am Straßenverkehr teilnimmt, überhaupt erlaubt ist. Solange man die Umgebungsgeräusche hört, ist das aber wohl so. Wie das funktionieren soll, ist mir allerdings schleierhaft. Denn meistens hört man ausschließlich die Musik. Wie auch immer.

Ein Leben ohne Smartphone ist natürlich nicht mehr möglich, ohne Knopf im Ohr ebenfalls nicht. 

Manchmal empfinde ich das Telefonieren auch als Belästigung. Denn bei vielen hat man den Eindruck, sie benötigen eigentlich weder Smartphone noch Kopfhörer, sie scheinen zu versuchen, ihren Kilometer weit entfernten Gesprächspartner einfach ihren Anteil am Gespräch hinüber schreien zu wollen. Es interessiert mich nicht, wer, was, mit wem, ich will es einfach gar nicht wissen. Aber viele private Gespräche werden teilweise lautstark in die Gegend gebrüllt und man wird Opfer der Unterhaltung, statt dessen sollten sie eigentlich auch privat bleiben. Da sollten viele mal an ihrer Etikette arbeiten, falls sie das Wort schon einmal gehört haben sollten.

Vor Jahren hatten wir mal eine Kollegin, die bei ihren letzten Tätigkeiten vor Ende des Arbeitstages Kopfhörer trug und klassische Musik hörte. Damals noch ein absolutes Phänomen und eigentlich ein No-Go! Wir anderen Kollegen fanden das sehr befremdlich und als eines Abends einer unserer Geschäftsführer bei seinem Rundgang die Kollegin darauf ansprach, konnten wir anderen uns ein Grinsen nicht verkneifen. 

„Ja, ich höre klassische Musik“, erwiderte sie auf seine Frage. „Wollen sie auch mal hören?“, fragte sie ihn. Unserer damaligen Meinung nach frech. Er winkte allerdings ab, sagte kein Wort und verschwand wieder in seinem Büro. Wahrscheinlich war er damals schon der Zeit voraus, fand es gar nicht schlimm. Oder er wusste in dem Augenblick einfach nicht, was er sagen sollte. 

Wenn ich heute durch unsere Firma gehe, ist es wie bei meinem Spaziergang. Gefühlt mehr als die Hälfte tragen einen Teil der Arbeitszeit Kopfhörer und hören Musik. Entweder, weil sie die Umgebungsgeräusche nicht hören möchten oder weil die Kollegen nerven. Oder beides, ich weiß es nicht. 

Ich kann mich nicht mit Musik auf, bzw. in den Ohren, auf die Arbeit konzentrieren, es sei denn, sie läuft leise im Hintergrund. Aber ich bin auch kein Maßstab dafür, die Zeiten haben sich schließlich geändert. 

Zu meinem letzten Geburtstag habe ich mir übrigens einen Zuschuss für eine dringend notwendige Anschaffung gewünscht. Die neuen AirPods-Pro sollten es sein. Ja, ich weiß, erst über Kopfhörer labern und sich dann selber welche kaufen oder wünschen. Aus dem Zuschuss wurden dann komplett bezahlte Kopfhörer und vor kurzem habe ich sie nun ausführlich getestet. 

Was soll ich sagen, ich bin total begeistert. Das Besondere an dieser Ausführung ist, dass man die Umgebungsgeräusche so gut wie vollständig ausblenden kann, auch ohne Musik zu hören. Das ist wirklich herrlich. Und wenn man telefonieren, nach dem Wetter fragen oder jemanden eine Nachricht schicken möchte, einfach Siri Bescheid sagen, ohne das Smartphone aus der Tasche nehmen zu müssen. Ich kann mich also während meines Spazierganges komplett mit Siri unterhalten, als wäre es ein normales Gespräch. 

Doch bei aller Begeisterung frage ich mich dann immer mal wieder, ob es nicht doch schöner ist, live, mit einem echten Menschen, Angesicht zu Angesicht eine Unterhaltung zu führen.