Zivilcourage

Vor ein paar Tagen wurde ich gefragt, wie ich auf folgende Situation reagieren würde:

Bekannte Szene aus dem heutigen Alltag. Man sitzt in einem vollen Bus und der junge Fahrgast, der einem gegenüber sitzt, starrt auf sein Handy (wie 90 Prozent aller Fahrgäste) und der Ton aus diesem Smartphone beschallt mindestens den halben Bus. Man fühlt sich genervt und belästigt. Nun zur Frage: Sprichst Du den Mann an und bittest ihn, den Ton leiser zu stellen? Oder setzt Du Dich, wenn Platz ist, möglichst weit weg von ihm oder bleibst einfach sitzen, erträgst den Lärm in dem Gedanken, dass Du sowieso bald aussteigen kannst?

Ich habe einen Moment über die Frage nachdenken müssen, denn meiner Meinung nach ist das so pauschal nicht zu beantworten. Am liebsten würde ich ihn darauf ansprechen. Allerdings kommt es darauf an, was für einen Eindruck dieser Störenfried auf mich macht. 

Wenn ich ihn nicht anspreche, ist die Frage, wer ihn wie anspricht. In welchem Alter ist diese Person und ist sie männlich oder weiblich? Das kann unterschiedliche Auswirkungen haben. Ist es eine ältere Person, kann es sein, dass als Antwort zum Beispiel „halt die Fresse Opa (oder Oma)“ kommt. Bei mir könnte ich mir die Antwort so vorstellen: „Kümmere Dich um Deinen eigenen Scheiß“. Es gibt eine Menge Möglichkeiten. 

„Kinderstube“ haben sehr viele heutzutage leider nicht mehr genossen und es wird auch nicht besser, eher schlechter. Während man noch vor einigen Jahren gar nicht darüber nachgedacht hätte und ohne Angst vor den Auswirkungen seine Meinung kundtun konnte, kann das in der heutigen Zeit im schlimmsten Fall sogar lebensgefährlich werden.

Die Hemmschwelle scheint von Jahr zu Jahr immer niedriger zu werden, nicht nur verbal, sondern auch physisch angegriffen zu werden. Wenn schon Polizisten, Feuerwehrleute, Ärzte und andere Menschen, die sich aus Überzeugung für uns Bürger einsetzen, bespuckt und attackiert werden, warum soll man denn gegenüber anderen, vor allem auch älteren Menschen gegenüber, Respekt zeigen?

Es ist traurig, aber ich würde mich im Zweifelsfall wahrscheinlich wirklich woanders hinsetzen oder es ertragen. Oder kann ich davon ausgehen, wenn ich doch etwas sage und der Typ mich plötzlich angeht, dass andere Fahrgäste mir zur Seite stehen, Zivilcourage zeigen?

Zivilcourage ist in unserer Zeit noch wichtiger geworden. Gerade, wenn Gewalt oder auch nur die Androhung von Gewalt häufiger auftritt, ist es wichtig, dass „der normale Bürger“ sich einsetzt. Natürlich kann man sich damit auch in Gefahr bringen. Beispiele dafür gibt es genug.

Vielleicht sagt dem einen oder anderen der Name Dominic Brunner noch etwas? Der Geschäftsmann hatte 2009 vier Schüler an einem S-Bahnhof vor gewalttätigen Jugendlichen beschützen wollen und zahlte das selber mit seinem Leben. 

2014 half die 22-jährige Tugce Albayrak auf einem Parkplatz einer McDonald-Filiale in Offenbach zwei 13-jährigen Mädchen, die von einem 18-Jährigen belästigt wurden. Dieser schlug die 22-Jährige heftig, sodass sie mit dem Kopf auf dem Parkplatzboden aufschlug und ins Koma fiel. An ihrem 23. Geburtstag ließen die Eltern die lebenserhaltenden Apparate ihrer Tochter abschalten.

Laut Kriminalstatistik gab es 2022 in Deutschland 189.149 straftatverdächtige Jugendliche zwischen 14 und 17 Jahren. Insgesamt gab es 443.242 tatverdächtige Kinder, Jugendliche und Heranwachsende. 

Woran liegt das? An den Eltern, dem Umfeld, der Herkunft? Es scheint so, als wäre die Hemmschwelle wie gesagt immer niedriger geworden, eine Straftat zu begehen. Denn die Strafen, auch wenn das Gesetz oft andere Möglichkeiten offen hält, fallen viel zu milde aus. 

Wenn ich bei uns im Fitnessverein bin, müsste ich eigentlich ständig irgendwelche anderen Mitglieder an die Regeln erinnern. Smartphones im Wellnessbereich sind natürlich verboten. Nacktfotos von sich möchte man ja kaum im Internet finden. Telefonieren in den Umkleiden oder an den Geräten ist ebenfalls nicht erlaubt. Wenn aber schon die Mitarbeiter nichts sagen, dann soll ich meinen Mund aufmachen? 

Kann ich mir dann danach sicher sein, im Dunkeln gut nach Hause zu kommen? Muss ich befürchten, dass mein Auto nach meiner „Maßregelung“ einen fetten Kratzer quer über die Motorhaube hat?

Wenn jemand in Gefahr ist, ist es trotzdem wichtig, einzuschreiten. Man kann versuchen, andere zu motivieren, ebenfalls zu helfen. Oder laut schreien, in der Hoffnung, dass es Wirkung zeigt. Am besten ist es natürlich, die Polizei zu rufen. 

Es muss jeder für sich entscheiden, was die Situation einem wert ist. Fühle ich mich einfach nur genervt, ertrage ich es vielleicht besser, auch wenn es traurig ist. Muss sofort gehandelt werden, muss man sich entscheiden, ob man sich in Gefahr geben will und sein eigenes Leben riskiert. Doch weggucken ist keine Lösung.

Die Frage mit dem Bus ist also nicht einfach zu beantworten. Es kommt ganz individuell auf die Situation an. Wichtig ist sicherlich, erst einmal, zumindest kurz, über die möglichen Folgen des eigenen Handelns nachzudenken. 

Ja, ich gebe zu, alleine das ist schon traurig. Aber die Zeiten haben sich nun einmal geändert. Wenn früher, also wirklich vor vielen Jahren, ein erwachsener Mann oder eine Frau einen Jugendlichen maßregelte, dann wurde das im Normalfall angenommen. 

Aber diese gute alte Zeit ist schon lange vorbei.