Empathie
Ich kann nicht wirklich behaupten, dass das Wort Empathie schon immer zu meinem Sprachgebrauch gehört hat. Gefühlt ist es erst vor ein paar Jahren modern geworden. Dabei gehört die Bedeutung, die hinter diesem großen Wort steckt, ja seit Menschengedenken zu uns. Oder eben auch nicht. Das gegenteilige Wort kann man mit dem neu geprägten Begriff Ekpathie bezeichnen. Scheint so neu zu sein, dass es bei mir sogar rot unterstrichen wird. Man kann es aber auch mit dissozialer Persönlichkeitsstörung umschreiben.
Aber mal von vorne: Mit Empathie bezeichnet man laut Wikipedia die Fähigkeit und die Bereitschaft, Emotionen, Gedanken, Motive und Persönlichkeitsmerkmale einer anderen Person zu erkennen, zu verstehen und nachzuempfinden. Besser könnte ich es auch nicht ausdrücken. Wichtig ist meiner Meinung nach, dass eigentlich alles Beschriebene zutrifft. Also nicht einfach einen Teil heraussuchen und wenn dieser auf einen zutrifft, ist man bereits empathisch. Es kommt aufs Gesamtpaket an.
Nun könnte unter dem Begriff empathisch im Duden eigentlich ein Gesicht meines Vaters auftauchen. Mein Vater war, je älter er wurde, sagen wir mal „nahe am Wasser gebaut“. Auf keinen Fall eine „Heulsuse“, nicht falsch verstehen, aber eben sehr emotional. Und das war auch eine seiner vielen Eigenschaften, die ihn ausmachten!
Wenn es im Fernsehen mal wieder etwas rührselig wurde, bildete sich immer öfter Wasser in seinen blauen Augen. Eine Eigenschaft, die ich damals belächelte habe und ihn sogar regelmäßig damit aufzog. Selbst am Ende einer Peter Alexander Show, wenn der Entertainer ebenfalls zum Ende der Sendung ein wenig Tränen fließen lies, machte mein Vater es ihm nach. Ich fragte dann immer amüsiert, ob ich ein Taschentuch holen soll.
Diese Eigenschaft hat er mir 1:1 oder sogar mehr, vererbt. Ein Erbe, dass das Leben nicht unbedingt einfacher macht.
Nun kennt kaum noch jemand Peter Alexander und bei ihm wäre ich auch nie gerührt gewesen. Aber mein Höhepunkt war an einem Tag, der mich aus irgendeinem Grund, den ich heute gar nicht mehr weiß, emotional gefordert hatte, dass mir auf dem Laufband im Fitnessstudio, während ich also lief, bei einer Merci-Werbung, die Tränen kamen. Danke, Merci, das war schon peinlich. Es hat zum Glück fast niemand mitbekommen, außer meiner Frau, und das hat auch gereicht. So wie ich meinen Vater immer damit liebevoll aufgezogen habe, bekomme ich jetzt, sobald meine Augen sich mal wieder mit Wasser füllen, die Frage nach „Merci?“ von ihr gestellt.
Und das passiert leider sehr oft. Auch wenn ich es manchmal etwas verteufle, denke ich immer öfter darüber nach. Passe ich nicht mehr in die heutige Welt oder sollten viel mehr Menschen so empfinden? Und das nicht heimlich, sondern auch dazu stehen.
Ich habe den Eindruck, dieses Gefühl ist aber einfach nicht angesagt und unmodern. Ich kenne sehr viele emotionale Steine oder besser ausgedrückt, Zombies, die anscheinend absolut kein Mitgefühl empfinden können. Egal, um welche noch so traurige Situation es sich handelt, sie sind in keiner Weise zu einer emotionalen Empfindung fähig (die Formulierung, die ich eigentlich an dieser Stelle verwenden wollte, nämlich in keinster Weise, gibt es übrigens nicht. Denn es gibt keine Steigerung von kein. Bei manchen Menschen wäre es aber durchaus angebracht).
Und ich habe in letzter Zeit das Empfinden, diese Menschen werden immer mehr, ich immer exotischer.
Nun habe ich in meinem Leben schon sehr viele Situationen erlebt. Ich kann mich sehr gut in Gefühle anderer Menschen versetzen und mitfühlen. Das macht den Alltag aber nicht immer einfach, ganz im Gegenteil.
Wenn Menschen bei einem Unglück verletzt oder gar ums Leben kommen, werden schon nach kurzer Zeit bereits oftmals Witze darüber gemacht. Wenn ein richtig alter Mensch stirbt, wird häufig gesagt, das es nun einmal der Lauf der Zeit ist und dieser Verstorbene ja auch sein Leben gelebt hat. Das stimmt natürlich, aber je länger man jemanden kennt, um so mehr Zeit hat man mit ihm verbracht und um so mehr wird man ihn oder sie vermissen.
Als vor Kurzem in einem Zug von Kiel nach Hamburg viele Menschen verletzt und zwei Jugendliche, eine 17-Jährige und ein 19-Jähriger, sogar dabei ermordet wurden, schlug mir das wochenlang auf den Magen. Sie hatten noch ihr gesamtes Leben vor sich. Ich musste mir die Situation für die Angehörigen vorstellen, wenn es an der Haustür klingelt, die Polizei mit einem Notseelsorger und einem Pastor vor der Tür steht und mit betretener Miene um Einlass bitten. In dieser Situation hat man das Gefühl, es reißt einem jemand den Boden unter den Füßen weg.
Wie viele Menschen sind von diesem Leid betroffen. Auch die Überlebenden haben Jahre, wenn nicht sogar für immer, oftmals Angstzustände oder Panikattacken. Nur weil so ein Individuum, was gar nicht hier sein dürfte, seiner Wut freien Lauf lässt. Auch heute, es ist ja gerade erst einen guten Monat her, muss ich immer wieder daran denken.
Mein Boden wurde mir gerade erst einmal wieder vor ein paar Tagen unter den Füßen weggerissen. Mitten im Urlaub, in dem man sich eigentlich erholen und entspannen möchte. Bereits das zweite Mal in meinem Leben erhielt ich eine WhatsApp-Nachricht, in der ich gefragt wurde, was ich denn zum Tod eines bestimmten, mir nahestehenden Menschen sage. Ich konnte nicht glauben, was ich da lesen musste und der Text verschwamm vor meinen Augen.
Er stand mitten im Leben, war immer gesund, fit und generell gut drauf. Er half anderen gesund zu werden oder zu bleiben. Er war nur ein paar Jahre älter als ich, er kann nicht plötzlich weg sein. Ich kannte ihn seit 30 Jahren, habe ihn geschätzt. Ihn dafür bewundert, dass er optisch nie älter wurde und sich immer Zeit für einen nahm, auch wenn es in der Praxis noch so voll war. Ich habe ihn respektiert und wegen seiner mitfühlenden Art sehr gemocht. Wir haben über Gott und die Welt gesprochen, zusammen gelacht, uns über Persönliches ausgetauscht, per WhatsApp geschrieben, uns im Laufe der Jahre, als wäre es völlig normal, geduzt. Er gehörte sozusagen zu meinem Leben dazu. Er war für mich einfach unsterblich. Wenn es mir nicht gut ging, dann war er mein Ansprechpartner. Er war mein Arzt.
Eine solche Nachricht trifft mich so hart, dass mein Magen sich zusammenzieht und ich mich plötzlich körperlich Jahrzehnte älter fühle. Die Nachricht erreichte mich an unserem letzten Urlaubstag vor dem Rückflug. An einen erholsamen Urlaub wäre für mich nicht mehr zu denken gewesen.
In solchen Momenten möchte ich gerne manchmal anders empfinden. Andere Menschen sind auch betroffen, können es aber abschütteln und sind nur kurzfristig betroffen. Das ist mir leider nicht vergönnt. In diesem Fall stehe ich mit dem Gedanken daran auf und gehe wieder mit ihm schlafen. Und in der Nacht kommt er mich immer wieder besuchen.
Ich arbeite daran, mir das Leben nicht so schwer zu machen. Aber das ist nicht so leicht. Die vielen Menschen, für die das Wort Empathie ein Fremdwort ist, haben es natürlich leichter.
Doch für mich bleiben zwei Fragen offen: Möchte ich mit diesen Menschen tauschen? Nein! Selbst trotz der Schmerzen nicht. Die zweite Frage, die mich beschäftigt: Muss man heutzutage alles per WhatsApp besprechen? Selbst eine Nachricht wie den Tod übermitteln? Gibt es keine Grenzen mehr, kein Bedarf, Dinge und Situationen persönlich zu klären? Vielleicht einmal das gute alte Telefon benutzen, wenn man den Anderen vielleicht schwer mit dieser Information treffen könnte? Dass man an Geburtstagen und anderen Ereignissen nur noch eine Nachricht schickt, daran hat man sich ja traurigerweise längst gewöhnt.
Und gerade während ich diesen Blogbeitrag schreibe, fällt mir ein, dass unsere Freundin Melle Geburtstag hat und nehme mein Handy zur Hand. Automatisch öffne ich WhatsApp, als ich meine eigenen Zeilen hier lese. Unfassbar. Selbstverständlich habe ich ihr persönlich am Telefon gratuliert und das wird auch in Zukunft viel öfter so gemacht.
Empathie, ein Wort, welches zwar modern ist, aber das, was es aussagt, wohl den Meisten fremd ist.
Diesen Blogbeitrag widme ich meinem Hausarzt Peter. Wieder einmal heißt es für mich, Abschied nehmen. Es ist für mich nicht greifbar. Ich werde Dich sehr vermissen. Meine Gedanken sind bei Deiner Frau, Deiner Familie, Deinen Kollegen und Freunden.