Sonnenfinsternis

Als Kind hatte sicherlich früher jeder seine Idole. Ob aus Film- und Fernsehen, Musik oder Sport. 

Einige erinnern sich vielleicht noch an den BRAVO-Starschnitt. Es waren Poster in dem Jugend-Magazin Bravo. Bereits 1959 erschien diese beliebte Rubrik mit der Schauspielerin Brigitte Bardot. 

Um eines der beliebten, etwa lebensgroßen Poster komplett zu besitzen, musste man mehrere Ausgaben sammeln, diese herausschneiden und zusammenkleben. 

Ob ABBA, Elvis, Winnetou, Superman, Nena oder Udo Lindenberg, auch ich kann mich erinnern, einige gesammelt zu haben. 

Sage und schreibe 44 Teile brauchte man, um die Beatles komplett zusammenkleben zu können. Dazu waren 39 Ausgaben nötig. Bis zum Jahre 2004 wurden insgesamt 118 Starschnitte veröffentlicht. 

Als Kind schaut man zu seinen Idolen auf. Man bewundert sie und möchte gerne, zumindest etwas, so wie sie sein. So aussehen, ihre Eigenschaften haben und so beliebt sein. Zumindest träumt man davon. 

Aber auch als Erwachsener haben viele noch Idole. Man ist Fan von Berühmtheiten. Insgeheim wünscht man sich dann vielleicht immer noch, einmal in die Rolle dieser Person schlüpfen zu können. Einmal einen Stunt machen wie Tom Cruise, einmal so auf der Bühne zu stehen, wie Madonna, einmal durch die Lüfte zu fliegen, wie Superman.

Natürlich darf man sein ganzes Leben Idole und Vorbilder haben. Man muss ja nicht versuchen, sie zu kopieren. 

1974 gab es einen besonderen Starschnitt. Es war die komplette deutsche Fußballnationalmannschaft. Neben Sepp Meier, Berti Vogts und Paul Breitner, gehörte auch der damals neunundzwanzigjährige Spieler mit der Rückennummer fünf zum Kader.

Der 1945 in München geborene Franz Anton Beckenbauer. 

Dass er mit zweiten Vornamen Anton hieß, war mir bis vor ein paar Tagen nicht bekannt. Natürlich gehörte Franz Beckenbauer bei den meisten aus meinem Jahrgang zu einem der beliebtesten Fußballspieler überhaupt. Jeder wollte einmal so spielen können, wie er.

Es war nicht nur seine Leichtigkeit, mit der er den Ball streichelte. Auch nicht sein Ausnahmetalent insgesamt auf dem Platz. Es war seine Aura, seine außergewöhnliche Ausstrahlung. 

Vielleicht hatte die BRAVO 1974 bereits geahnt, das bei der Weltmeisterschaft etwas ganz Großes passieren würde. Denn bei seiner dritten Weltmeisterschaft führte Franz Beckenbauer die Mannschaft über das Endspiel gegen die Niederlande zum Weltmeistertitel. 

Nach zwölf Jahren als Nationalspieler beendete er diese außergewöhnliche Karriere 1977 nach 103 Länderspielen und 14 Toren. In unfassbaren 91 Prozent der Spiele kam er zum Einsatz. Eine unglaubliche Quote. 

Ich kann mich erinnern, dass ich ihn mit meinem Vater einmal live in Hamburg spielen sehen habe. Es war ein ganz besonderes Erlebnis. 

Als er die WM 1990 als Teamchef gewann, erinnern sich ganz sicherlich alle, die damals am Fernseher klebten, wie er mit den Händen in den Taschen nach dem Spiel über das Feld lief. Es war eine bewegende und berührende Szene zugleich.

Bei der nächsten WM 1994 in den USA eröffneten wir, also Deutschland, das Turnier gegen Bolivien im Soldier Field Stadion in Chicago. Ich war live dabei im Stadion und hatte Karten für insgesamt drei Spiele. Ich kann mich noch sehr genau an diesen Tag erinnern. Nicht nur, weil es um die 40 Grad heiß war im Stadion. Auch nicht, weil die Eröffnungsfeier gigantisch war und ebenso wenig, weil Bill Clinton Helmut Kohl viel Glück wünschte und mir genau gegenüber saßen. 

Es war der Moment, als ein Raunen durch das Stadion ging. Als die deutschen Fans sich die Köpfe verdrehten und ans äußerste Ende des Stadions schauten. Es kam ein Mann mit dem Weltmeister-Pokal im Arm ins Stadion, um ihn zu übergeben. Und das war kein anderer als Franz Beckenbauer. Es war ein Gänsehaut-Moment, den ich niemals vergessen werde. Und wenn ich jetzt daran denke, bekomme ich schon wieder Gänsehaut.

Wenn der Kaiser, wie er gerne genannt wurde, einen Platz oder Raum betrat, hatte man das Gefühl, die Menge geht auseinander. Fast wie Moses das Meer geteilt hatte. Er war einfach die Lichtgestalt.  

Wie immer wird nicht jeder meiner Meinung sein und natürlich haben ihn ganz sicherlich auch einige nicht gemocht. Das ist ja auch völlig ok. Aber ich habe mich über jeden seiner Auftritte im Fernsehen gefreut. Ob als Spieler, Trainer, Kommentator, Experte, eine lange Zeit war Franz Beckenbauer ja auch omnipräsent. 

Als es ihm gelungen war, die WM 2006 nach Deutschland zu holen, war er sicherlich am Gipfel seiner Beliebtheit und auch dank ihm wurde aus dem Turnier dann „das Sommermärchen“. Was für eine schöne Zeit. Was für eine außergewöhnliche Stimmung im Land. Es schien, als würde die ganze Welt auf uns schauen und sich von unser eigenen Begeisterung einfach anstecken lassen. Ich weiß noch, als der erste in der Nachbarschaft seine Deutschland Fähnchen am Auto anbrachte. Ich traute zunächst meinen Augen nicht. Dann wurden es immer mehr und selbstverständlich schloss auch ich mich an und war fasziniert von der Stimmung im Land. 

Damals hatte ich vor Begeisterung kurz überlegt, mir eine ganz kleine Deutschland Fahne auf den Oberarm tätowieren zu lassen. Zum Glück blieb es bei der Idee. Es war eine einmalige Stimmung im ganzen Land, die wahrscheinlich nie wieder so zurückkommen wird. Wenn man diese Stimmung mal mit der heutigen vergleicht. Da liegen wirklich Welten dazwischen. 

Franz Beckenbauer war natürlich der Held der Stunde. Schließlich hätte es ohne ihn nicht geklappt. Aber leider, wie so oft, kann man sein Leben lang noch so beliebt sein, noch so erfolgreich, das Blatt kann sich auch ganz schnell wenden.

Als die ersten Vorwürfe wegen Bestechlichkeit aufkamen, wurde es nach einer Weile immer ruhiger um ihn. Hinweise darauf, dass die WM 2006 gekauft wurde, verdichteten sich. Wenn ich das alles richtig verfolgt habe, gibt es eine Menge Vorwürfe gegen ihn, hundertprozentig bewiesen wurde es aber nie.

Wenn ein Mensch, der wahnsinnig viel für unser Land getan hat, sein Leben lang bewundert und respektiert wurde, plötzlich überall Antipathie spürt, ist es in meinen Augen kein Wunder, dass ihm damit das Herz gebrochen wurde und er krank wurde.

Gesundheitlich angeschlagen zog er sich immer mehr aus der Öffentlichkeit zurück. Gerade eben noch eine Lichtgestalt, plötzlich führte er ein Schattendasein.

Ich habe in den letzten Jahren oft an ihn gedacht, auch wenn man nichts mehr von ihm hörte oder sah. 

Ich habe dann oft gedacht, auch wenn die Sonne an manchen Tagen überhaupt nicht zu sehen ist, weiß ich immer, dass sie da ist. Irgendwo hinter den Wolken oder vielleicht sogar hinter dem Mond, da ist sie gerade. Man sehnt sich nach ihr, aber der Gedanke, dass sie ja da ist, beruhigt.

Am 07.01.2024 mussten wir Abschied nehmen. Abschied von einer Legende. Kaum zu realisieren.

Der Tod von Franz Beckenbauer hat mich sehr berührt, hat mich tief getroffen. Getroffen hat mich auch, wie schnell sich Menschen von anderen abwenden. 

Die Welt ist seit dem 07.01.2024 nicht mehr dieselbe.