Himmelfahrt

Als der unbekannte Mann meine Hand ergriff und sie fest drückte, schaute er tröstend, aber auch mit einem Anflug von Hoffnung, tief in meine verweinten Augen. „Es geht ihm jetzt gut“, sagte er mir und trotz dieser unfassbaren Situation, glaubte ihm ein Teil von mir.

In Extremsituationen können wir oft keinen klaren Gedanken mehr fassen. Wenn ein Pastor plötzlich vor der eigenen Haustür steht und um Einlass bittet, gerät man schnell in eine Art Schockzustand. Sowohl der Körper als auch der Geist wehren sich, den Gedanken innerlich auszusprechen. Doch wenn man dann die Botschaft wahrnimmt, der schlimmste Fall tatsächlich eingetreten ist und man erfährt, dass man einen geliebten Menschen verloren hat, fällt es schwer, die Situation wirklich begreifen zu können.

Nach einer Weile, nachdem man es tatsächlich realisiert hat und der Körper schwer ist und jeder Schritt, jede Bewegung, jeder Atemzug, jeder Gedanke, den man fassen möchte, anstrengt, sucht man irgendwann nach Hoffnung. Es dauert seine Zeit. Der eine sucht nach Trost, braucht den Kontakt jetzt besonders zu seinem Partner und seinen Lieben, seiner Familie und seinen Freunden. Der andere möchte nur gerne alleine sein, möchte nicht auf den Verlust angesprochen werden. Jeder Mensch ist anders und reagiert anders. 

Was mir geholfen hat, war die Teilnahme an einer Trauergruppe. Allerdings sollte man eine gewisse Zeit verstreichen lassen, bis man daran teilnimmt. Am Anfang wollte ich dort auf keinen Fall hingehen und musste mich sehr überwinden, diesen Schritt zu gehen. Aber dieser Schritt war richtig, auch, wenn er am Anfang sehr schwer war. Jeder, der möchte, redet über seine Erfahrungen, seine Trauer. Wer möchte, kann auch nur zuhören und sich irgendwann, oder auch gar nicht, öffnen und sich mitteilen. Für jeden ist der Zeitpunkt anders. Sich die Trauer der anderen auch noch aufzuladen, kann natürlich am Anfang tatsächlich noch viel mehr runterziehen. Es ist schwer, sich so viel Leid aufzubürden. Doch irgendwann kann der Punkt gekommen sein, dass geteiltes Leid tatsächlich halbes Leid ist. Dieser Spruch kann tatsächlich wahr werden. 

Die Trauergruppe traf sich teilweise in einem Raum, in den man erst gelangte, wenn man durch eine Ausstellung hindurch ging. Diese Ausstellung stellte aber nicht irgendetwas aus. Sie stellte Särge, Urnen und Kleidung für Verstorbene aus. Ein sehr befremdlicher Anblick, der meinen  Magen die ersten Male zusammenziehen ließ. Irgendwann gewöhnt man sich selbst daran.  Und man lernt, dass der Spruch „das letzte Hemd hat keine Taschen“ nicht unbedingt zutreffend sein muss. Ich habe Hemden gesehen, die hatten tatsächlich Taschen.

In der Trauergruppe kam man dann irgendwann an den Punkt, auch über Gott zu sprechen. Die alles entscheidende Frage lautet: Gibt es Gott wirklich? Und wenn ja, gibt es ein Leben nach dem Tod?

Die zentrale Botschaft des Christentums lautet, der Tod ist nicht das Ende. Millionen Menschen glauben daran. Aber kann das wirklich möglich sein? Ist es möglich, dass wenn der Körper komplett abschaltet, ein Teil von uns weiterlebt? Gibt es tatsächlich eine Seele? Trifft man nach seinem eigenen Tod seine verstorbenen Lieben wieder? Ist der Körper nur eine Art Hülle, die für ein Leben danach nicht mehr benötigt wird?

Spätestens nach einem schweren Verlust sucht man vielleicht Trost und Hoffnung in diesem Gedanken. Ich habe mir Bücher zum Thema Leben nach dem Tod gekauft und auch im Internet recherchiert. Es gibt nahezu unzählige Berichte, die von Nahtoderfahrungen berichten. 

Eine hat mich ganz besonders beeindruckt. Ich stieß auf die Geschichte einer jungen Frau namens Christine Stein. Im März 2000 hatte sie einen schweren Verkehrsunfall mit einem LKW. Die damals 19-Jährige musste von der Feuerwehr aus ihrem Fahrzeug befreit werden. Das dauerte eine lange Zeit. Im Krankenhaus stellen die Ärzte erhebliche Verletzungen fest: Riss der Hauptschlagader und der Milz, Lungenquetschung, Gehirnblutungen, Rippenbrüche und einen Beckenbruch. Diese Verletzungen waren so massiv, dass sie die letzte Ölung erhält. Doch die junge Frau kämpft und schafft es tatsächlich, dank der Ärzte, sich zu erholen und kann bereits nach einigen Wochen das Krankenhaus verlassen. 

Nach einer Weile denkt sie, sie sei über den Berg, hätte es endgültig geschafft. Doch dann reißt die Hauptschlagader und sie droht zu verbluten. Dank eines Freundes schafft sie es, in ein Krankenhaus gebracht zu werden. Doch während der Notoperation ist sie für ganze 23 Minuten klinisch tot. 

Ihre Erlebnisse während dieser Zeit sind mit normalem Menschenverstand schwer greifbar. Ihre Großeltern, die sie bewusst nie kennengelernt hat, führen sie durch ihr Reich. Alles ist wunderschön bunt, beruhigend, sie fühlt sich sofort wohl. 

Sie hört die Ärzte, wie sie um ihr Leben kämpfen und kann von dem Gespräch im Nachhinein davon berichten, obwohl sie zu dieser Zeit klinisch tot war. Nach einer Weile verabschieden sich ihre Großeltern mit einem liebevollen Kuss auf die Stirn wieder von ihr, mit den Worten, sie hätte noch eine Aufgabe zu erfüllen und man würde sich wiedersehen, in vielen Jahren. Sie überlebt abermals. 

Diese Erfahrung macht Hoffnung. Der Gedanke daran spendet mir Trost. Und ehrlich gesagt, ohne diesen Gedanken, ohne daran zu glauben, dass es nach dem eigenen Tod weitergeht und man seine Lieben tatsächlich wieder trifft, kann ich gar nicht wirklich leben. So viele Millionen Menschen glauben daran, es muss noch etwas kommen. 

Gestern war Himmelfahrt. Ist Jesus, der Sohn Gottes, tatsächlich auferstanden und in den Himmel aufgestiegen, wo auch immer dieser Himmel sein mag? Ja, ich glaube daran. 

Trost hat mir in meiner Trauersituation auch ein Hörbuch gespendet. Es heißt „Die Hütte – Ein Wochenende mit Gott“, das sogar 2017 verfilmt wurde. Und immer, wenn sich mal wieder die ganz große Traurigkeit wie ein schweres Gewand einhüllt, höre ich es mir erneut an. Am Ende hilft es mir, trotz vieler Tränen, wieder Hoffnung zu schöpfen.

Wenn man darüber nachdenkt, wie ein Leben entsteht, wirklich darüber nachdenkt, ist dieses Wunder genauso unglaublich, wie ein Leben nach dem Tod. 

Der Gedanke spendet mir Trost und Hoffnung im Alltag, im Leben. Und ohne diese Hoffnung könnte ich nicht leben.