Wenn Eltern älter werden

Als Kind gibt es in vielen Fällen zunächst nur zwei Menschen, zu denen man aufblickt. Das sind die eigenen Eltern. Natürlich ist mir bewusst, dass nicht jedes Kind mit diesem Gefühl aufwächst, es kommt natürlich immer auf das Verhältnis und die Umstände an. Aber in meinem und vielen anderen Fällen ist das ganz sicherlich der Fall gewesen. 

Die Eltern kümmern sich um Dich, setzen sich für Dich ein, kämpfen für Dich, versuchen jeden Schaden von Dir abzuwehren, versorgen Dich mit allem, was Du als Kind benötigst, soweit es möglich ist.

Wenn Du in die Schule kommst, sind sie von Anfang an auf Deiner Seite. Gibt es mal Ärger mit den Lehrern, sind sie zur Stelle. Wirst Du mal in der Schule verdroschen, verteidigen sie Dich, stehen hinter Dir, beschützen Dich. Für ein Kind ist oft der Vater der stärkste Mensch der Welt. Überhaupt scheinen Deine Eltern einfach unkaputtbar zu sein. Sie sind schon meistens lange vor Dir auf und wenn Du abends total müde und erschöpft vom Tag bist, bringen sie Dich noch ins Bett. Fantastisch.

Sie helfen Dir bei den Schularbeiten, bringen Dir das Fußballspielen oder vielleicht das Reiten bei. Sie können auf fast jede Deiner Fragen eine Antwort geben. Sie sind den Tag meistens voller Elan und Energie. 

Im Laufe Deiner Kindheit verändert sich das nur unwesentlich. Oft sind sie nicht „nur“ Deine Eltern, sie sind auch Deine besten Freunde, denen Du alles anvertrauen und die Du alles fragen kannst. 

Im Laufe Deines Lebens kommt dann irgendwann einmal der Punkt, wo Du Ihnen irgendwie „gleichgestellt“ bist. Du hast die selbe Power, hast Dir viel Wissen angeeignet, kannst nun auch auf viele ihrer Fragen antworten. Die Anzahl der Fragen verschiebt sich. Irgendwann ist die Zeit gekommen, in denen Du plötzlich mehr gefragt wirst. Noch vor Kurzem war es umgekehrt der Fall war. 

Es ist, als würde sich die Rollenverteilung fast unbemerkt verschieben. Eben noch hast Du auf sie aufgeschaut, tust es zwar immer noch, aber irgendwie anders. Jetzt schauen sie auf Dich auf, erzählen gerne anderen, wie stolz sie auf Dich sind. 

Irgendwann, oft, wenn es um technische Dinge geht, bekommst Du plötzlich immer mehr Fragen gestellt. Du weißt, dass es Dir leicht fällt, Dein Smartphone, Dein Tablett, Deinen neuen Fernseher zu bedienen. Denn Du bist mit diesen vielen neuen technischen Herausforderungen aufgewachsen, beherrscht sie im Schlaf. Schließlich beschäftigst Du Dich ja auch ständig damit. 

Deinen Eltern fällt es nicht mehr so einfach, die immer neuen Errungenschaften zu begreifen. Die Digitalisierung, die für uns völlig normal und auch dringend notwendig ist, gab es in ihrer Zeit nicht. Während früher ein Brief noch Tage bis zum Empfänger unterwegs war, war eine Telefonkarte in der Größe einer Scheckkarte für die vielen Telefonzellen im Land eine kleine Sensation. Plötzlich brauchte man keine „Groschen“ mehr. 

Heute telefonierst Du fast weltweit mit einer Uhr, wunderst Dich, wenn Du auf Deine WhatsApp Nachricht nach ein paar Minuten noch keine Antwort erhältst. Noch vor Kurzem haben Deine Eltern noch auf das Schreiben mit der Stromabrechnung gewartet, heute müssen sie sich in irgendwelchen Portalen anmelden. Sie haben im Tante-Emma-Laden lose Kartoffeln und Mehl eingekauft, konnten anschreiben lassen. Jetzt sollen sie ihre Einkäufe an der Kasse selber einscannen. Ihren Arzt konnten sie spontan bei Bedarf aufsuchen, heute können sie von zu Hause eine Online-Sprechstunde mit Videoübertragung elektronisch buchen. 

Und trotzdem nehmen sie die Herausforderungen an. Auch, wenn sie immer einmal wieder auf Deine Hilfe angewiesen sind, beherrschen viele, ihre Lieblingssendungen im Fernsehen digital zu programmieren, um sie nicht zu versäumen. Lassen sich per Alexa an ihren Braten im Ofen erinnern, bezahlen mit ihrer Uhr. Dinge, die unsere Großeltern in ihrem Alter niemals gekonnt hätten. 

Auch sehen sie im Alter immer noch viele Jahre jünger aus. Sie treiben immer noch Sport, machen Yoga, fahren alleine in den Urlaub. Sie schaffen den Haushalt oft noch völlig selbstständig, möchten dafür keine Hilfe in Anspruch nehmen, wenn es nicht sein muss.   

Und wenn Du dann den nächsten Geburtstag mit ihnen feierst, kannst Du selber kaum glauben, welche Zahl auf der Torte stehen muss. Dann musst Du auf einmal beim nächsten Spaziergang ab und an mal stehenbleiben, um auf sie zu warten und Dir fällt plötzlich auf, dass nicht alles mehr so schnell geht, wie früher. Wenn Du Glück hast, sind die Eltern noch fit, aber es ist trotzdem anders geworden. 

Alles hat sich einmal gedreht. Eben bist Du es noch gewesen, der auf dem Arm getragen wurde. Der immer neue Fragen gestellt hat. Dem man geholfen hat, das schwere Fahrrad aus dem Keller zu tragen. Der schutzbedürftig war und eine Menge Aufmerksamkeit benötigt hat. Plötzlich ist es umgekehrt. Obwohl, so plötzlich kommt es gar nicht.

Wenn man ehrlich ist, will man es auch einfach nicht wahrhaben. Man will, dass die Eltern immer so bleiben, wie wir sie aus unserer Kindheit kennen. Dass sie immer fit bleiben, körperlich und geistig und uns ein Leben lang begleiten. Alles andere fällt uns sehr schwer zu akzeptieren. 

Oftmals reagiert man ungeduldig, ist genervt, wenn man das Gleiche mehrmals gefragt wird. Aber brauchten wir nicht vor gar nicht allzu langer Zeit ihre Hilfe genauso, wie sie jetzt unsere benötigen?

Als Kind fällt es einem oft schwer, zu erkennen, dass Eltern einfach normale Menschen sind. Manch einer hat schon ein Problem damit, zuzugeben, dass man selber nicht mehr zwanzig ist. Um so schwerer wird es dann, sich einzugestehen, dass auch die geliebten Eltern älter geworden sind. 

Rücksicht, Einfühlungsvermögen, ein offenes Ohr, Geduld und jede Menge Liebe sind jetzt besonders gefragt. Denn auch wenn wir nicht wahrhaben wollen, dass auch ihre Kräfte nicht mehr so sind, wie wir es aus Kindheitstagen in Erinnerung haben, können wir doch unendlich dankbar sein, dass es sie gibt.